«Er ist ein richtiger Stängelkohl!» – So müsste man das wohl übersetzen; und es verliert dabei sogleich gänzlich an Klang und Wirkung. «È una vera cima di rapa!» – Das Original klingt schon besser, aber es fehlt noch etwas. Richtig: eine Handbewegung. – Italienisch ist bekanntlich eine Sprache mit viel Körpereinsatz und verfügt über einen grossen «Wortschatz» an Gesten; allein das Handvokabular ist wohl das reichhaltigste. Je weiter südlich, desto expressiver ist der nonverbale Teil – und: Vorsicht vor regionalen Unterschieden!
Eine sonderbare Geste
Vor nicht langer Zeit bin ich in Pomarico auf eine Handgeste gestossen, die mir bis anhin unbekannt war: Die Finger einer Hand sind, ganz ähnlich wie bei der bekanntesten aller italienischen Gesten («was?», «was willst Du?») zu einer Spitze geformt, dabei wird die Hand aber nicht zur Schulter geschwungen, sondern dreht sich schnell etwa dreimal um die Achse des nach oben gerichteten Unterarms (nach links und rechts, soweit es jeweils geht). Das allein reicht noch nicht; die Geste hat mehrere Bedeutungen: Die «Schraubbewegung» wird in diesem Zusammenhang nur verständlich, wenn dazu gesagt wird, dass die nicht anwesende Person eben einem Stängelkohl oder einer Zichorie (cicoria) gleicht.[1] «È una cicoria» – «Sie ist eine Zichorie».
Was die beiden Gemüse in diesem Zusammenhang verbindet, erklärt meine Freundin: Sie kommen auf dem süditalienischen Boden neben zahlreichen anderen wie etwa Mangold und Spinat sehr häufig vor, wachsen überall. Und das zeichnet wohl auch die so betitelte Person aus: Leute von dieser Sorte gibt es viele. Man kann davon ausgehen, dass das Lästeropfer von sich eine andere Meinung hat; zunächst aber gilt die Person bisweilen als inkompetent, sogar nutzlos und anderes. Nutzlos und gar lächerlich scheint das, was sie mit den Pflanzen gemeinsam hat: ihr Aufstängeln … Daher die Handbewegung. Ich habe übrigens auch schon Vergleiche mit Artischocken gehört. Auch damit kann man andeuten, dass jemand etwas dumm dasteht – in jeder Hinsicht.
Gemeinheiten
Die Zichorie selbst kann manchmal vielleicht tatsächlich etwas dumm dastehen – nicht nur, weil sie auch Gemeine Wegwarte heisst und damit eine etwas geduldige Randständige angedeutet ist. Die Pflanze gehört botanisch gesprochen zu den sogenannten Trittgesellschaften, richtet sich also tapfer nach jedem Niedertrampeln wieder auf, ist sehr widerstandsfähig und wird wohl gerade deshalb volkstümlich mit verschiedenen medizinischen und magischen Eigenschaften in Verbindung gebracht. Ihre blaue Blüte zeigt sich nur wenige Stunden und nur bei schönem Wetter. Sind es die schönen Augen eines verzauberten Mädchens, das am Wegrand auf ihren Liebsten wartet? Die Zichorie hat bei uns viele Namen – und einiges an Sagen und Geschichten auf sich gezogen. Bekannt ist sie vor allem in der Pflanzenmedizin und aus ihren Wurzeln kann man Kaffee gewinnen. Chicorée (Brüsseler), Cicorino, Radicchio, Endivie (Scarola), Zuckerhut und andere auch im Norden kultivierte und erhältliche Arten des cicorium intypus – so die wissenschaftliche Bezeichnung der ganzen Gattung der Wegwarten – wissen da schon weit weniger zu erzählen.
Zurück zu den sprechenden Fingern. Gelästert wird in allen Kulturen. Das ist vermutlich immer bitter für die betreffenden Personen. Dass in diesem Zusammenhang aber Gemüsesorten ins Spiel kommen, die gerade wegen ihrer Bitterkeit als so segensreich gelten (Verdauung, Entschlackung, gut für die Blutgefässe), ist wohl reiner Zufall. Gemein, dass es die Gemeine Wegwarte mit ihrer so sensiblen blauen Blüte trifft, der etwas herbere Stängelkohl kann es wohl verkraften. So oder so: Nutzlos sind die Gemüse natürlich keineswegs, sondern gehören zu den gepflegtesten Traditionen der Basilicata. Ohne weiteren Kohl zu erzählen: Dass Wertvolles und Geschätztes zur Verstärkung negativer Aussagen verwendet wird (und umgekehrt Negatives zur Unterstreichung von Positivem), kommt in der Sprache ja immer wieder vor.
«Gehen wir zu den Zichorien»
Wenn etwas selten ist, wird es eher geschätzt: Ich war als Kind jeweils selig, wenn meine Verwandten aus Italien jene Gemüse mitbrachten, die es damals in der Schweiz noch kaum zu kaufen gab. Verdura – das Gemüse aus der Kategorie «Grünzeug» – ist von der lukanischen Tafel nicht wegzudenken und wird sowohl in der kultivierten wie in der wildwachsenden Form sehr geschätzt und noch immer gesammelt. Darunter fallen etwa die Zichorienarten Cicorie, Cicorielle (etwas zarter) und andere Wildgemüse aller Art, während die Rapa schon eher zu den nur noch gekauften oder angebauten Sorten gehört (ortaggio – das Gemüse, das im Garten wächst). Dem einen oder anderen Touristen klingelt bei Rapa vielleicht etwas in den Ohren, denn die Orecchiette con cima di rapa sind in Apulien bereits zu so etwas wie einem Nationalgericht stilisiert worden; gegessen wird dieses Pasta-Gericht in Varianten aber im ganzen Süden und ist auch in der Basilicata ein Klassiker der alten Küche.

Nicht selten spazierte Nonna los und suchte auch auf unseren Wiesen, an Weg- und Waldrändern nach Wegwarten und wurde fündig. «Ist das nicht Löwenzahn?», fragte jeweils meine Mutter. Der Löwenzahn, auch ein bitterer Verwandter in der Familie der Korbblütler, gleicht der Zichorie tatsächlich und wird wohl auch gerne mit der kultivierten und importierten Blatt- oder Schnittzichorie, der Catalogna, verwechselt. Vor diesen Verwechslungen sind auch Dokumentarfilme nicht gefeit: Einen Übersetzungsfehler, der aus Zichorien Löwenzahn gemacht hatte, habe ich schon in einem an sich wunderschönen Beitrag über die Küche der Basilicata festgestellt.[2] Aber was soll‘s: Gerade im Frühling lassen sich die zarten Blätter des Löwenzahns auf gleiche Art wie die Zichorie zubereiten.

Dennoch ist denkbar, dass die sammelnde Bevölkerung Süditaliens Löwenzahn und anderes wiederum als Cicoria bezeichnen. Volkstümliche Namen waren nie eindeutig. Und so verwundert es nicht, dass es in Pomarico eine besondere Redewendung gibt, die genau das zum Ausdruck bringt, in etwa: sci‘ a cecuere – [schije a tschekjuere] – italienisch andare a cicorie, was so viel heisst wie zu den Zichorien gehen. – Man sagt damit, dass man loszieht, um Wildgemüse zu suchen, das Sammeln beschränkt sich dann nicht nur auf Zichorien, sondern das, was koch- und verwendbar erscheint.
Für das Kochen und Zubereiten von Zichorien (und anderen Blattgemüsen) gibt es viele Rezepte und Zichorienarten sind praktisch das ganze Jahr über in verschiedenen Stadien in den Gemüseläden erhältlich (auch aufgestängelte Pflanzen lassen sich noch kochen). Für alle diese Pflanzen eignen sich Spinat-, Mangold und Chicorée-Rezepte. Wunderbar machen sie sich mit Fleisch sowie auf und in Focaccie rustiche.
Tradition mit Fingerspitzengefühl
Die einfachste Variante, Zichorienblätter zu essen: in etwas Salzwasser kochen, abgiessen, mit Olivenöl beträufeln, Knoblauch und geriebener Pecorino-Käse dazu. – Wunderbar! Traditionell isst man Cicorie – das findet man in Matera in Restaurants – gekocht mit einem Püree aus Saubohnen – Fave; dazu wird geröstetes Brot serviert (vergleiche Abbildung im Kapitel «Leonardo und die Bohnen»).
Die Finger braucht es nicht nur zum Gestikulieren: Wichtig in der italienischen Küche ist Fingerspitzengefühl, denn Kochen ist ein sinnliches Erlebnis. Egal, was man mit dem Wintergemüse Cima di rapa vorhat: Man zupft die Blätter und feinen Stiele mit den Fingern aus und erkennt so, welche Teile sich zum Kochen und Verzehr eignen. Die Blütenknospen erinnern an Broccoli und werden bevorzugt verwendet (je weiter in der Entwicklung, umso bitterer). Bei Zichorien ist es etwas einfacher: Sind die Blätter schön, kann man sie in der Regel kochen. Die härteren Stiele werden auch hier entsorgt. Überhaupt darf man sich als Laie nicht wundern, wie viel von den angeschleppten Pflanzen fortgeschmissen wird. Umso wertvoller, was dann auf dem Teller dampft.
Heute ist Cima di rapa als Importprodukt auch bei uns in ausgesuchten Geschäften zu haben und Cicoria, insbesondere in der Version der Cicoria catalogna cimata, über die Gastarbeiterfamilien hinaus bekannt geworden. Ich habe gelesen, dass man dieses Gemüse im Deutschen als Spargelchicorée oder Vulkanspargel bezeichnet. Mag sein, mit Spargeln hat die Pflanze aus meiner Sicht nichts gemeinsam, denn von Interesse ist vor allem das verwachsene Herz unter den Blättern: etwa daumendicke Hohlkörper, die Spitzen (Puntarelle), die man vom Strunk schneidet und als erfrischender, knackiger, leicht bitterer Salat verspeist. Die Blätter kann man wie bei allen Zichorienarten wiederum kochen.

Das grüne Band der heimatlichen Erde
Gemüse ist hier nicht nur Nebensache. Pflanzen wie Cima di rapa, die Cicoria sind das grüne Band, das die Lukanerinnen und Lukaner mit ihrer Erde verbinden. Seit der Antike sind nicht nur ihr Geschmack, sondern auch ihre guten Eigenschaften (darunter, wen wundert’s, ihre Unterstützung in Liebesdingen) besungen. Horaz lobte nicht nur die lukanischen Würste, die Salsiccia, sondern erwähnte auch das entsprechende Gemüse. – Herrlich ist der Kontrast heute, denn am Umgang mit diesen Gemüsesorten erkennt man, wie sich die Basilicata bei allem Willen zur zukunftsorientierten Öffnung und umtriebiger Geschäftigkeit viele Traditionen bewahren konnte. Nicht selten kann man inmitten von Touristenströmen oder telefonierenden Geschäftsleuten auf einer Piazza noch Händlerinnen und Händler erblicken, die in einem Korb, auf der Ladefläche ihrer Kleintransporter (Ape) oder im Kofferraum eines Autos frisch gepflücktes Grünzeug feilbieten.
Es ist angerichtet
Besonders wenn der Frühling in der Luft liegt, die Kirschen, dann die Mandelbäume blühen, bald Wildspargel erscheint, geht man gerne frisches Grünzeug sammeln. Ein Gefühl des Aufbruchs, der Reinigung und nicht zuletzt der Dankbarkeit kann einen erfüllen: Die geduldige Wegwarte spricht uns an – die Natur hat alles für uns parat und man wäre wirklich ein Cima di Rapa, greift man da nicht zu: Man muss nur zu den Zichorien gehen …
Hinweis – 14.1.2019: Der vorliegende Text wurde im Rahmen des Blogprojekts «Terra di Matera: Basilicata – Reisen, Gedanken und Erinnerungen» geschrieben und gilt nunmehr als nicht mehr weiter bearbeiteter oder korrigierter Entwurf für das Buch «Matera, die Basilicata und ich: Ein persönlicher und literarischer Reisebegleiter auf der Suche nach dem mystischen Herzen Süditaliens».
Alle mit diesem Hinweis gekennzeichneten Kapitel wurden für das Buch inhaltlich überarbeitet, mit Ergänzungen versehen und sprachlich korrigiert und erscheinen damit gedruckt in lektorierter Form. Freuen Sie sich auf mehr Lesevergnügen!
[1] Mit der gleichen Geste kann man sich selbst mit einer Artischocke vergleichen. Wird man etwa in einer Verabredung versetzt, gehört die Handbewegung zum Vorwurf; man vergleicht sich dann wie eine alleinstehende Pflanze.
[2] Etwa in dieser Ausgabe der Reihe «Zu Tisch in …»: https://www.youtube.com/watch?v=bfV_5t4bvh0 – (Link geprüft am 14.1.2018).
man bekommt beim lesen schon Gelüste, wenn man cime di rapa vor sich hat , kann man sich nicht mehr halten Grety
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Danke für das lustvolle Feedback :-).
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