«Wer ist das?» – Wir stehen an einem Stand eines jungen Verkäufers in den Sassi von Matera. Christus nimmt neugierig eines der schwarzen T-Shirts in die Hand und mustert die darauf abgedruckte Person. «Chitaridd», antwortet der junge Verkäufer, «der letzte Brigant.» – «Unser Brigant», fügt ein anderer augenzwinkernd hinzu, und schon nähern sich Personen, die uns Touren anbieten. Man könne sein Leben entdecken und die Höhle besichtigen, in welcher er sich zuletzt versteckt und wo er am 26. April 1896 getötet aufgefunden worden ist. «Briganten?» Christus blickt mich fragend an. «Gesetzlose, mal mit der Aura eines Robin Hood, mal Bandit; es waren Frauen (!) und Männer, die einst den jungen italienischen Staat einzeln und in Banden, in regelrechten Armeen sogar, das Fürchten gelehrt haben und die Bevölkerung in ein Gefühlsbad zwischen Bewunderung und stiller Unterstützung, aber auch Angst und Schrecken versetzt hatten.»[1]
«Uagliò!» – wurde ich in an dieser Stelle unterbrochen. Mit diesem Ausdruck ruft man sich hierzulande, sinngemäss: «Hey, Junge!» – «Uagliò!», ruft einer der Männer Christus zu. «Weisst Du, wem Du gleichst? – Du könntest Guevara sein; Che, kennst Du?» Er winkt mit einem anderen T-Shirt, natürlich mit dem berühmtesten aller Portraits. Jetzt musste ich etwas schmunzeln. «Christus mit der Knarre» wurde er schon genannt. Ich erkläre meinem Reisegefährten, dass man Ernesto «Che» Guevara heute, über 50 Jahre nach seinem Tod, auf T-Shirts aufgedruckt tragen kann, ohne eigentlich kaum zu wissen, warum. Natürlich, man kann diese kontroverse Figur als eine Art Ikone sehen für den (doch eher meist zahnlosen oder stillen) Protest gegen Unterdrückung der Reichen und Satten sowie ihrer Gleichgültigkeit gegenüber Armut, Hunger und Ausbeutung. «Che» als Kämpfer gegen den Kapitalismus würde sich über den Kommerz, den man um seine Person heute treibt, zumindest wundern.
«Aber einen Briganten auf der Brust tragen?» Christus stand das Fragezeichen auf die Stirn geschrieben. «Die Geschichte der Basilicata ist so voller Widersprüche wie wir Menschen es sind. Im Gegensatz zu Guevara trugen Briganten sicher keine Luxusuhren, einige von ihnen sind heute aber wohl so unsterblich geworden wie jener.
Ein besonderes Erbe
«Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Willst Du die Basilicata verstehen lernen, gehört auch die Geschichte des Brigantaggio – so das Phänomen des Brigantentums auf Italienisch – dazu. Das, weil Geschichte nicht nur Vergangenheit ist, sondern auch der Umgang mit ihr: Erstens wird Geschichte nicht selten von Siegern geschrieben, was im Fall des Südens, der vom Norden ab 1861 durch Savoyen-Piemont regelrecht erobert worden ist, ganz besonders der Fall ist; und darum ist nicht immer klar, wann ein als Brigant Bezeichneter tatsächlich einer jener Rebellen gegen den fordernden und weit entfernten neuen Staat war und nicht einfach ein ruchloser Bandit (ohne politischen Antrieb also) oder die betreffende Person von vornherein unschuldig angeklagt worden war. Was nicht selten der Fall ist. Zweitens gehört die bis heute gepflegte Erinnerung an die bewaffneten Frauen und Männer zum kulturellen Gedächtnis der Basilicata, die mit ihren Wäldern, abgelegenen Dörfen, Bergen und Höhlen ein besonderer Hotspot dieses süditalienischen Phänomens war. Die Geschichten und Legenden sind filmreif, handeln von Liebe, Leidenschaft, schönen Frauen, Kameradschaft und Verrat und eben dem Kampf gegen staatliche Willkür und für Freiheit, lösen eine ganz eigene Faszination aus – zugegeben auch auf mich. Der Umgang mit diesen Erzählungen weist darauf hin, dass das Thema mit einer ganz eigenen Symbolik bis heute gegenwärtig ist. Es ist ein reiches Liedgut überliefert, die bemerkenswerte Biografie des berühmtesten ‹Generals›, Carmine Crocco, wird heute noch gerne gelesen. Überall hat es Verstecke, sie hausten in Höhlen und Wäldern. Wer im Süden unterwegs ist, trifft im heutigen Schilderwald immer wieder auf Schilder, die für eine ‹Grotte der Briganten› werben, ich habe schon von einer Pizza mit diesem Namen gehört und bin selbst in Pomarico eines Sommers ganz ehrfürchtig vor einer Höhle in einem unwegsamen Wäldchen gestanden, in welcher Briganten sich einst versteckt haben. Schätze der Briganten werden vermutlich noch heute gesucht …»
Und drittens kommt man ins Grübeln: Würde man Briganten heute als Terroristen bezeichnen? Die legitime Gewalt täte es vermutlich. Und was ist mit den anderen? Oder anders gesagt: Irgendwie schwingt immer etwas Verständnis mit, wenn man die Geschichten der Briganten liest. Unweigerlich fragt man sich also, was müsste heute geschehen, dass Menschen wieder zu Briganten werden, sich sogar zu einer Bewegung organisieren, wenn sie das Gefühl haben, nichts mehr verlieren zu können? Das Leben im Süden ist nach wie vor alles andere als einfach. Ich sage immer: Die Basilicata ist ein reiches Land, sie wäre es wirklich, würden ihre Schätze gerechter genutzt. Unzweifelhaft wird sie mit Sonne reich beschenkt. Und wo viel Licht ist, da ist naturgemäss auch viel Schatten. Fürchtete man früher die schlechte Luft, die aus den Böden aufstieg, die ‹mala aria›, dann ist der Boden heute von einem ganz anderen Übel getränkt, das zum Himmel stinkt: Vetternwirtschaft, Klientelismus, Korruption, Schwarzarbeit, Misswirtschaften, seitens der Bevölkerung das Misstrauen gegenüber dem Staat, das zu fehlenden Steuereinnahmen führt und so weiter. Armut und die genannten Übel führen in einer modernen Gesellschaft dazu, dass kaum Solidarität entsteht, was früher entschieden anders war, wie mein Vater immer wieder betont. Und auch aus dem Boden dünstet wieder konkret Übel aus, das die Erde und das Wasser verseucht und erst einige Zeit nach den politischen Versprechen sichtbar wird: Es wird nach Erdöl und Erdgas gebohrt, die Folgen für die Umwelt, Gesundheit, die Existenz von Agrar-und Viehwirtschaft sind verheerend.»
Ausdruck und Teil der Südfrage
«Versteh mich nicht falsch, ich bin kritisch gegenüber Romantisierung und Folklore, verzerrenden Geschichtsbildern, die suggerieren, dass früher alles besser gewesen wäre und wenn wir zum vorherigen Diskurs der «Besetzung durch den Norden» zurückkehren: Ein undifferenziertes Bashing gegen den Norden würde ich nicht unterstützen; es gibt bei weitem genug eigene, sprich hausgemachte Probleme. Umgekehrt kann man angesichts der heutigen wirtschaftlichen und politischen Lage Italiens sogar anführen, dass der Norden heute – trotz einiger sehr produktiver Zentren – insgesamt ‹südlicher› geworden ist und sich damit die Vision Giuseppe Mazzinis während des Risorgimentos bewahrheitet haben könnte: ‹Italien wird das sein, was sein Mezzogiorno sein wird›[2]. – Niemand kann ernsthaft den Bourbonenstaat zurückhaben oder sich vom Norden abspalten wollen. Das war schon damals so: die postunitaristischen Briganten kämpften nur symbolisch für die Bourbonen, sie wollten einfach ihre alte Ordnung wieder haben und endlich etwa gerechtere Landverteilung. Die gepflegte Erinnerung an das Brigantentum ist aber wohl trotzdem auch deswegen Teil der lukanischen Kultur geworden, weil sich darin Wut und Enttäuschung über ein zumindest unterstelltes Abgehängt- und Ausgebeutet Sein in aller Stille ins kollektive Bewusstsein eingeprägt hatte. Aber es geht auch um Respekt. Wie meinte Roberto Saviano zum 150. Jahrestag der Einigung Italiens 2011: Die Verdrängung einer aufrichtigen Debatte über die Einigung Italiens ‹ist der Grund dafür, dass der Süden sich noch immer nicht als einen allgemein respektierten und integrierten Teil Italiens betrachtet, sondern eher als gewaltsam annektiertes, eigentlich von allen verachtetes Anhängsel. Von dieser tiefen Skepsis der Süditaliener gegenüber dem eigenen Staat profitiert letztlich die Mafia.›»[3]
Auch «Cafoni» und «Terroni» sind Menschen
Langer Rede kurzer Sinn: Die Geschichte des Brigantenwesens und dessen Betrachtung kreuzte sich damit mit der Geschichte eines anderen bis heute nachwirkenden Problems Italiens: La questione meridionale – Die bis heute kontrovers betrachtete Frage des Südens. – Klar, die Erinnerung wird heute auch aus touristischen Gründen gepflegt, aber dennoch dünkt mich aus dem bisher Gesagten eine Perspektive eine Überlegung wert: Während der Norden aus den Kämpferinnen und Kämpfern aus dem Kreis der «Cafoni» und «Terroni» – so die Schimpfworte für die Bauern, die bis heute bekannt sind, – Kriminelle, man würde heute sagen: Terroristen, machte, betrachtete das lukanische Lied sie als Menschen. Bei allen tatsächlichen Gesetzesübertretungen und aller Grausamkeiten ihrerseits, derer sich niemand ernsthaft rühmt, die aber mit Schaudern erzählt werden.»
Das Brigantentum ist ein komplexes Phänomen und nicht immer leicht zu verstehen, auch wenn es beim Lesen der Geschichten und Biografien den Gerechtigkeitssinn in einem anrührt; Gewalt ist durch nichts zu rechtfertigen, schon gar nicht, wenn sie nicht nur in der Verteidigung, sondern auch gegen «innen», gegen Unschuldige gerichtet wird. Auch wenn mich – so im letzten Fall – immer wieder die ernüchternde Ahnung durchströmt: Die Reichen und Mächten, diejenigen, die etwas zu sagen haben (aber nicht immer zu hören sind), können so oft darauf zählen, dass sich die Schwachen gegenseitig beneiden und bekämpfen. Ich kann im Falle des Brigantentums und seiner Bekämpfung kein Urteil über bessere oder schlechtere Menschen fällen. Fortgeschrittenen Lesern empfehle ich an dieser Stelle das Stöbern in den Studien des Soziologen Eric Hobsbawn, der den Begriff Sozialrebellen geprägt hat und unter anderem auch über die Geschichte der italienischen Briganten dem Phänomen des Banditentums differenziert auf den Grund zu gehen versucht.
Ich bin ins Reden geraten und wieder einmal abgeschweift. Man lernt hier an allen Ecken … Christus hat bisher interessiert zugehört, bewegte ständig nachdenklich das Shirt in seinen Händen; der Händler ist ungeduldig geworden und apropos Erzählen: Wir haben den Touristenführer so lange warten lassen – lassen wir ihn doch wenigstens die Geschichte Chitaridds erzählen.
Eine Bauernrevolte
Nur so viel zum Schluss: Wir sprechen hier nur vom «postunitarischen» Brigantentum, das sich mit der Einigung des italienischen Staates entwickelt hatte, also ab den 1860er-Jahren. Das Phänomen, mit anderen Akteuren und unter anderen Vorzeichen, gab es aber schon früher, als man im süditalienischen Königreich gegen die Franzosen, gegen Napoleon, dann gegen den Bourbonen kämpfte. Die Geschichten um Fra Diavolo, den Anarchisten Giovanni Passannante, dessen schreckliches Ende und anderer lösen Frösteln aus und boten Stoff für Romane und Filme.
«Kriminell oder nicht, nicht zuletzt war das postunitarische Brigantentum ein sehr breites und nicht monokausal erklärbares Phänomen, das wie ein Vulkan in den wildesten Formen ausgebrochen war. Es brodelte im Volk: missverstanden vom Königreich Italien und enttäuscht vom Staat, enttäuscht von Garibaldi. Der Staat erfand ständig neue und belastende Steuern, forderte Militärdienst (und damit Einkommensverlust) ein und hielt sich nicht an das Versprechen von Landreformen. Man darf sogar sagen, der piemontesische Staat hat sich mit dem Süden, der entwickelter war, als man meint, saniert. Italien war mit der Einigung vollendet, nun mussten noch Italiener geschaffen werden. Doch, was geschah: Man machte die Länder des Königreichs Neapel zu Süditalienern.
Und: Wieder waren die Grossgrundbesitzer begünstigt. An dessen Seite kämpfte man zunächst noch mit abhängten bourbonischen Adligen und Soldaten – also zusammen mit den einstigen Unterdrückern sozusagen – sogar mit Unterstützung aus Spanien und dem Vatikan gegen Piemont, bis dann ein eigener Krieg daraus wurde: So ist das Brigantentum nach der italienischen Einigung im Kern eine Bauernrevolte. Matera kann etwa von blutigen Auseinandersetzungen im Sommer 1860 erzählen, als sich die Bevölkerung gegen ihren Grafen stellte.
Die Menschen des Südens warfen sich in einen nahezu todessehnsüchtigen Kampf ohne Aussichten. Und eines ist sicher, den Reisenden kaum bewusst: Das Brigantentum wurde von der italienischen Armee dank Sonderrechten bis 1865 mit unvorstellbarer Gewalt unterdrückt, die in nichts dem nachstand, was Jahrzehnte später in Deutschland und andernorts auf der Welt vonstattengegangen ist. Man liest von brennenden Dörfern, Vergewaltigungen, Erschiessungen ohne Prozess, Verfolgungen von Familien gesuchter Briganten, ja sogar von Konzentrationslagern.
Ein Krieg unter Italienerinnen und Italienern mit tausenden von Opfern. Erreicht haben die Norditaliener damit wenig, Lukanien versank in einen düsteren Frieden (Carlo Levi[4]). Da und dort erhoben sich noch einzelne Kämpfer und Banditen. Meine Grossmutter hat sicher noch Geschichten gehört, die bis weit in das 20. Jahrhundert so lebendig erzählt wurden, wie wenn man selbst dabei gewesen wäre.
Ein rätselhaftes Ende und doch ein Schrecken
«Mit dem Tod Chitarrids 1896 endete aber in der Basilicata die «klassische Zeit» des Brigantentums.», mischte sich der Guide ein und beginnt zu erzählen. Die Umstände seines Todes sind unklar und die Erklärungen der beiden Männer, die ihn angeblich in Notwehr in seinem Versteck getötet haben, nicht über alle Zweifel erhaben – wie auch all die Verbrechen, die man ihm angelastet, aber nie bewiesen hat; Eustachio Chita, so sein richtiger Name, wurde schliesslich zeitlebens nie von der Polizei gefasst. Der Verdacht liegt nahe, dass die Männer Komplizen waren und den Gesuchten zum Schweigen gebracht haben. Verrat unter Gefährten und Anklagen ohne Prozess gehören zu den würzigen Zutaten all dieser Brigantengeschichten. Und es geht noch weiter: Wenige Jahre nach seinem Tod wurde 1900 die Leiche Chitas ausgegraben, offiziell exhumiert, und nach Turin, der damaligen Hauptstadt Italiens, geschickt: Dort wirkte ein Professor namens Cesare Lombroso, der anhand von Schädelvermessungen und Untersuchung von Gesichtszügen asoziales Verhalten studieren und Verbrecher identifizieren wollte. – Nord und Süd stand sich im gleichen Land gegenüber, man verstand sich schon rein sprachlich nicht. Ich empfehle an dieser Stelle den umstrittenen Film, den man auf youtube sehen kann – kaum erschienen, schon aus dem Verkehr gezogen und bis heute schwer erhältlich: «Li chiamarano … briganti (1999)».[5] Eine Szene zeigt, wie der piemontesische Arzt dem verständnislos dreinblickenden Bauern den Kopf vermisst; man ahnt es, er wird schliesslich als Verbrecher gebrandmarkt.
Die Geschichte Italiens, das Verhältnis zwischen Norden und Süden hat auch in diesem Bereich dunkle Seiten. Man bleibt etwas sprachlos zurück, wenn man sich überlegt, was in diesem Land geschehen und nicht wirklich aufgearbeitet ist. Entsprechende Entrüstung und unbeantwortete Fragen zum 150-Jahr-Jubiläum des italienischen Staates 2011; Staatspräsident Napolitano schwieg oder ich habe es nicht anders mitbekommen. Das etwas reisserische Pamphlet des Historikers Pino Aprile «Terroni» klagt mit dem Schimpfwort im Titel genau solche Gräuel an, vergleicht sie mit aktuellen Kriegsverbrechen und zeigt, wie erst der Diskurs und die Ausbeute den Mezzogiorno geschaffen hat.[6] Wir jedenfalls gedachten am 17. März, dem Tag der Staatsgründung, wie jedes Jahr meiner verstorbenen Nonna; der Tag hätte für sie kaum eine andere Bedeutung gehabt und das Bauerntum kannte ohnehin keinen Staat.
Schwierige Jugend
Zurück zu Chita. Eustachio wurde wohl nach einem der Schutzheiligen von Matera getauft: St. Eustachius soll einst einen Angriff der Sarazenen auf die Felsenstadt abgewehrt haben und wird seither verehrt.[7] Der Name ist daher als Vorname verbreitet, keine Ironie also, dass ausgerechnet ein Brigant den Namen eines Nothelfers trägt; diese wenden sich eher an St. Michael (Hauschild). In den Gemeinden Süditaliens ist es aber bis heute üblich, den Leuten Übernamen zu verpassen, sei es aufgrund äusserlicher Merkmale, Charaktereigenschaften, sei es wegen ihres Berufes oder sonstiger bemerkbarer Auffälligkeiten. Im Falle von Chita war es seine kleine Statur – Chitarrid bedeutet in etwa: der kleine Chita. Seine Eltern Michele und Maria Giuditta Caione waren verhältnismässig wohlhabende Bauern und Viehzüchter. Der Vater hatte allerdings einen schlechten Einfluss auf den Jungen, den er viel schlug und misshandelte, hungrig zum Viehhüten geschickt, die Familie durch sein Verhalten mehrfach beschämt, die Mutter in einen religiösen Wahn getrieben hatte, sich in hohe Schulden gestürzt und damit die Existenzgrundlagen der Familie zerstört hatte. Eustachio entfloh diesen Verhältnissen und begab sich auf ein eigentliches Vagabundenleben als Taglöhner mal auf Feldern, mal zum Vieh Hüten, mal als Eisenbahnarbeiter. Verständlich, dass jemand unter diesen Umständen keinen einfachen Charakter entwickeln konnte; die angefragten Arbeitskollegen sollen ihn durchwegs als einen launischen, streitsüchtigen, unzuverlässigen und gewaltbereiten Mann beschrieben haben.
Und tatsächlich sind rund um Matera verschiedene Delikte registiert worden, der Verdacht fiel immer wieder auf Chita; doch niemand konnte seiner habhaft werden. Die Unruhe in der Bevölkerung und der Druck auf die Ordnungskräfte, der Vorwuf, sie täten zu wenig, stiegen ständig an.
Höhlenleben nach Höllenleben
Am 26. April 1896 wurde er schliesslich in Matera in der Messe und bei scheinbar ganz alltäglichen Verrichtungen gesichtet. Gleichentags entdeckte schliesslich der 13-jährige Hirte Francesco Tarantini ein Gewehr und Kleidungsstücke in der Höhle (in der Contrada Murgecchia) und berichtete erschreckt seinen beiden Herren Falcone und Nicoletti vom Fund. Diese beruhigten ihn und sagten, sie werden sich die Sache am folgenden Tag ansehen. Weit gefehlt, wie sich herausstellen sollte: Als der Junge wie geheissen das Vieh nach Matera zurückgeführt hatte, erblickte er dort die beiden Herren mit den Carabinieri im Gespräch; sie berichteten gerade von einem getöteten Mann in einer Höhle in der alten Gemeindeweide (Jazzo Vecchio) in besagter Höhle. Nun, da war offenbar schon etwas erledigt worden; Falcone und Nicoletti beriefen sich (mit einem Dritten) dann erfolgreich vor Gericht auf Notwehr nach einem Kampf. Die Prozessakten berichten von einem wahren Waffenarsenal, das man in der Höhle vorgefunden hatte. Wie konnte er sich hier so lange unbemerkt verstecken? Wie sich übrigens herausstellte, waren die beiden Herren Cousins von Chita, dessen Leichnam dann auf dem Rücken eines Esels nach Matera geführt worden war; die Stadt atmete auf.[8]
Jemand hat das einzige Foto von geschossen: das Bild auf dem T-Shirt zeigt das bärtige Gesicht des toten Chitas mit einem merkwürdigen Grinsen und der Axtwunde am Kopf.
Matera fordert seinen Briganten zurück
War es das? Nicht ganz: Wie gesagt, wurden die sterblichen Überreste wieder ausgegraben und nach Turin geschickt. Und heute schliesst sich der Kreis: «Die Nachfahren Chitas fordern die Knochen aus Turin zurück.», erzählt der Guide, «sie befinden sich noch immer im museo di antropologia criminale. «Allein die Existenz eines solchen Museums macht nachdenklich. Und wir fordern nichts Unmögliches, sofern man die Knochen noch identifizieren kann: 1999 wurden die Überreste des Anarchisten Giovanni Passannante, der nach einem missglückten Attentat auf König Umberto I. (von Savoyen) 1876 unter übelsten Umständen inhaftiert, für verrückt erklärt und verrückt geworden und schliesslich nach einem elenden Tod ebenfalls in Stücken zur Untersuchung verschickt worden war, in sein Heimatdorf Savoia di Lucania überführt. Nicht nur die Familie wurde mitbestraft, auch das Dorf erhielt übrigens seine Quittung: Es hiess ursprünglich nicht Savoia, sondern Salvia di Lucania. Daran hingegen hat man nichts geändert …»
Die Mitarbeiter des Museums geben an, nur ein paar Dokumente vorgefunden zu haben. Die Suche nach den Überresten gleicht einem Krimi und wurde schon längst zu einem Politikum – wieder mit einem Schatten des Verhältnisses zwischen Norden und Süden. Ein Nachfahre Chitas, Michele, hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Knochen finden und nach Hause bringen zu lassen. In seiner Jugend dafür gehänselt, Nachfahre eines Briganten zu sein, hat er die Scham in Stolz verwandelt.
Michele Chita lässt sich zitieren, und so muss man es wohl heute sehen: «Das Brigantenwesen ist Teil unserer Identität und sollte nicht nur aus negativer Perspektive betrachtet werden. Chita hat Fehler gemacht, aber er ist auch ein Mensch, der viel gelitten hat.» – «Auch wenn nichts Gewalt rechtfertigt, so ist doch klar, dass auch das Leiden eines Leiden verursachenden Menschen und seine Ursachen Teil der Identität dieses einst so armen Landes ist», schliesst Christus.[9]
Nachtrag
Etwa ein halbes Jahr, nachdem ich diesen Text geschrieben habe, fahren wir auf dem Weg nach Picciano bei Matera an einer «Taverna del Brigante» vorbei. Die Begegnung, ich habe nicht gefragt, ob hier ein Brigant gewirtet hat, liess mich nicht mehr los und ich habe noch einmal etwas nachgelesen und im Text Ergänzungen eingefügt. Ich habe viel rumgefragt und mich nach Briganten erkundigt. Man kennt sie noch, die Geschichten der bekanntesten Exponenten finden sich auch im Internet; was mir aufgefallen ist: Niemand glorifiziert oder rechtfertigt die Taten, wiegelt ab. Das hat schon Carlo Levi festgestellt.
Aber leider habe ich nie Antwort erhalten, ob gut zehn Jahre nach dem Interview mit Chitas Nachfahren die Suche nach seinen Überresten in Turin noch immer aktuell ist. Eine Erwähnung möchte ich aber nicht versäumen: Das Brigantentum lebt im Herzen der Basilicata weiter – auf eine erstaunlich heitere und kreative Weise hat sich die Gegend das Thema zunutze gemacht: Im kleinen Dorf Brindisi di Montagna bei Potenza finden regelmässig spektakuläre Freiluftaufführungen im grossen Naturpark von Grancia statt, welche das Leben Croccos thematisieren.[10] Die Geschichte des Generals steht dabei stellvertretend für die verkannte Geschichte des Südens. Kein Geringerer als der Schauspieler Michele Placido, der im deutschen TV in der Serie «Allein gegen die Mafia» bekannt geworden ist, leiht dem Briganten seine Stimme. Ich lese, dass er sogar ein Nachfahre von ihm sei …
Grancia
Im Süden scheint man diese dramatisierten Darstellungen, Aufführungen, «rievocazioni» – ich würde den Begriff als eine Art des theatralisch inszenierten Nachrufs auf historische Begebenheiten übersetzen – zu schätzen. So wird in Miglionico um das mächtige Normannenschloss jeden Sommer die Verschwörung der Barone mit historischen Kostümen, Musik, Feuerwerk, Mittelaltermarkt inszeniert. Viel bescheidener als das, was im Grancia-Park geschieht, aber dennoch mit wachsend überregionaler Anziehungskraft. Und ein kleiner Unterschied zum bisher Besprochenen: Es waren nicht Bauern, sondern Grafen des Südens, die sich in den 1480er-Jahren gegen den spanischen König in Neapel Ferrante I. (nach dem Ferrandina benannt ist) verschworen und es bitter bezahlt haben. Briganten (vor-unitarisch) avant la lettre sozusagen.
Unruhiger Boden
Dennoch: Je mehr ich gesucht habe, die Basilicata war – auch das mag etwas überraschen – immer wieder mal Boden von Unruhen, ohne dass man gleich an Erdbeben und Briganten denken muss. Matera war in Süditalien die erste Stadt, die sich gegen die deutsche Besatzung gewehrt hatte (21. September 1943); auch Ferrandina scheint eine Stadt mit Widerstandsgeist gewesen zu sein. Und wenn die ländliche Bevölkerung sich nach dem Krieg in den Jahren 1947 bis 1950 mit revolutionären Aktionen für eine Landreform engagiert hatte, dann klingt das für mich schon so etwas wie der letzte Kampf des Bauerntums.
Ich erinnere mich, wie noch 2003 Blockaden und Widerstand gegen geplante Sondermülldeponien (radioaktive Abfälle) in Scanzano Jonico organisiert wurden. Solche «Briganten» würde ich mir heute eher wünschen – und man findet sie tatsächlich, wenn es um den wachsenden Widerstand gegen die Ölkonzerne geht, die ihren Versprechungen nicht nachzukommen scheinen und Verschmutzungen mitvertuschen. (Ich höre das «Ja» und «Nein» gegenüber den Konzernen, die auch Arbeitgeber sind, sehr wohl). Ich hoffe, dass Sponsoring von kulturellen Veranstaltungen und anderen Bequemlichkeiten nicht zum Ablass verkommt und kritische Stimmen verstummen lässt.
Während ich diesen Nachtrag verfasse, wird die Basilicata übrigens gerade (wieder einmal) von einem politischen Skandal erschüttert, bei welchem es um Vetternwirtschaft und Favorismus (raccomandazione) geht. Aus diesen Geschichten wird man vermutlich keine Freiluftaufführungen schreiben, aber hoffen, dass sich auch dieses Übel dereinst verzieht, darf man ja trotzdem …
Hinweis – 14.1.2019: Der vorliegende Text wurde im Rahmen des Blogprojekts «Terra di Matera: Basilicata – Reisen, Gedanken und Erinnerungen» geschrieben und gilt nunmehr als nicht mehr weiter bearbeiteter oder korrigierter Entwurf für das Buch «Matera, die Basilicata und ich: Ein persönlicher und literarischer Reisebegleiter auf der Suche nach dem mystischen Herzen Süditaliens».
Alle mit diesem Hinweis gekennzeichneten Kapitel wurden für das Buch inhaltlich überarbeitet, mit Ergänzungen versehen und sprachlich korrigiert und erscheinen damit gedruckt in lektorierter Form. Freuen Sie sich auf mehr Lesevergnügen!
[1] Italien hat viele Gesichter. Vielleicht hilft an dieser Stelle weiter: Hausmann, Friederike: Italien. München, C.H.Beck 2009.
[2] Auch wenn er damals wohl eher etwas anderes mit dieser Aussage gemeint hat, («L’Italia sarà quel che il Mezzogiorno sarà») nämlich, dass gemeinsamer Wohlstand nur mit Blick auf das schwächste Glied möglich ist.
[3] Roberto Saviano in der «Zeit» vom 10. März 2011 zur Frage, ob Italien überhaupt eine Nations sei: http://www.zeit.de/2011/11/Italien-Saviano – Link geprüft am 3.1.2018. – Übrigens gibt es Forscher, die tatsächlich der Meinung sind, dass im Brigantentum Ursprünge der Mafia zu finden sind; dem bin ich an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen.
[4] Der Schriftsteller beschreibt das Phänomen, die Gründe aus seiner Sicht, des Brigantentums, den er als einen Krieg der Bauern versteht, an mehreren Stellen sehr eindrücklich im Roman.
[5] https://www.youtube.com/watch?v=Uw4cO5fTk2E&list=PL-ht9SYO2oDsSuv_2GwGhOHzU94_nncpT – Link geprüft am 15.07.2018 (das hässliche Geräusch verstummt nach den ersten Minuten).
[6] Pino Aprile: Terroni. Tutto quello che è stato fatto perché gli italiani del Sud diventassero «meridionali». Milano, Edizione Piemme 2010.
[7] Das Patronatsfest vom 20. September: http://www.isassidimatera.com/eventi/sant-eustachio/. – Link geprüft am 4.1.2018.
[8] Die Lebensgeschichte ist ausführlich dokumentiert in der Biografie: De Ruggeri, Niccolò: Chitaridd. Il brigante di Matera. Matera, Edizioni Meta 1975. – Zum Einstieg helfen folgende Links von «Sassiweb» http://www.sassiweb.it/matera/la-citta-di-matera/introduzione/il-brigante-chitaridd/ und «Materainside» http://www.materainside.it/chitaridd-brigante-matera/ sowie ein Artikel aus der «Gazzetta del Mezzogiorno vom 11.9.2008: http://www.lagazzettadelmezzogiorno.it/news/home/81989/matera-chitaridd-l-ultimo-bandito-un-mito-anche-da-morto.html. – Alle Links geprüft am 4.1.2018.
[9] Matera will seinen Briganten zurück; Bericht in der «La Stampa» vom 8.9.2008: http://www.lastampa.it/2008/09/08/societa/matera-rivuole-il-suo-brigante-xJATAUJdWXB2kZbSw8dPgJ/pagina.html – Link geprüft am 4.1.2018.
[10] http://www.parcograncia.it/ – Link geprüft am 15.07.2018.