Auf der Suche nach einem Titel oder Motiv für mein Schreiben über die Basilicata bin ich auf die verschiedensten Zitate gestossen, die mir aus dem Herz sprechen. Ein Buchtitel (Hans Joachim Claassen) trifft es dabei ganz besonders: «Das Land der Väter mit der Seele suchend». Diese Ahnung, dass die Gegend meiner väterlichen Wurzeln, die ich über viele Jahre immer wieder bereist habe, etwas mit mir zu tun hat, eine Magie in sich trägt, die über mich hinausweist, hat mich beflügelt.

Die Basilicata – Mein Lukanien

In all den Jahren ist mir immer wieder aufgefallen, wie gerne ich über die Basilicata erzähle, diese biblisch-archaisch wirkende Gegend ausserhalb der Zeit und doch seinerseits «Labor» der Kultur- und Menschheitsgeschichte Europas. Und immer wieder stellte ich fest, wie unbekannt die Gegend ist. Selbst für Italienerinnen und Italiener, sogar – das ist schon sprichwörtlich geworden: die Wettervorhersagen. Die Basilicata hat kein Wetter und doch flüstern die Winde hier tausendjährige Erinnerungen. Erinnerungen, die auch Teil meines Selbst sind. Die Basilicata hat wunderbares Olivenöl, und doch erzählen die Fachbücher von Kampanien oder Apulien, dazwischen ein Loch. Der Beispiele für die merkwürdige Unsichtbarkeit sind viele.

Terra incognita

Die Basilicata – Lange Zeit terra incognita, unbekanntes Land, gemieden, gar verachtet und überhaupt: «Christus kam nur bis Eboli». Nach dem wohl berühmtesten Roman aus dieser Gegend (Carlo Levi) kam Christus hier nie an. Christus soll nur bis Eboli gekommen sein. Wie lange hat die vom Norden geprägte Sicht und Geschichte das Lied der Rückständigkeit des Südens gesungen, in das die ländliche Bevölkerung in ihrem zeitenlosen Leben der ewigen Kreisläufe, von fremden Herrschen und ihr unbekannten Staaten beherrscht, selbst eingestimmt hat. Und doch ist der Funke einer eigenen Identität nie ganz erloschen: So konnte es geschehen, dass man mit dem Label des UNESCO-Weltkulturerbes erkannt und anerkannt hat, welchen Schatz hier bewahrt worden ist. Und nun scheint sich das Blatt zu wenden und aus der «Schande Italiens» wird eine Kulturhauptstadt Europas (2019). Sogar der italienische Paradezug, der «Frecciarossa», schlängelt sich über Eboli hinaus, um der Welt die Reise zu einem ihrer Ursprünge zu ermöglichen: nach Matera.

Land der Kontraste

Die Basilicata ist erst im Laufe der Geschichte unsichtbar geworden. Die Griechen, Römer, Horaz, ein Friedrich II., heute ein Francis Ford Coppola, sie würden je eigen und ganz anders reden. Unsichtbar geworden und doch leben mehr Menschen mit Wurzeln – Ausgewanderte und ihre Nachkommen – auf der ganzen Welt als in der rauen Landschaft selbst. Und dies war vielleicht schon immer so, wenn ich daran denke, welche und wie viele uns bekannte Völker und Stämme hier aufgrund der besonderen Lage seit tausenden von Jahren angekommen sind, sich niedergelassen, mit den anderen vermischt haben und weitergezogen sind. Ein Land, das so viel Stille ausstrahlt und doch von so viel Unruhe geprägt ist: Wetter, Erdbeben, Eroberer, Fremdherrschaft und Fremdbestimmung, die Erfahrung, dass die Seele laufend für andere ausgeblutet wird. Das Holz all der Wälder (der alte Name Lukanien weist auf die Haine), die seit der Antike im grossen Stil abgeholzt worden sind, umkreisten als Schiffe die Weltmeere; das Erdöl, das jüngst gefördert wird, wo geht es hin? Bleibt wieder nur die Spur der Nutzung, diesmal die Verschmutzung zurück?

Ergriffenheit

Waren früher die Touristen («i touristi») Ausgewanderte und deren Nachfahren, die in ihren Ferien heimkamen, sind es plötzlich Menschen aus aller Welt, die dieses Land erkunden – und kaum jemand bleibt von dieser Reise unberührt. Es ist zum einen die Schönheit dieser wilden und rauen, hügeligen und zerfurchten Landschaft mit den oft atemberaubenden Gemälden, die Wetter und Sonnenuntergänge in den Himmel zeichnen. Zum anderen aber ist es dieses Gefühl der Erhabenheit, das die aufmerksame Seele, die – im zunehmend sinnentleerten Alltagsrummel der westlichen Welt betäubt – angesichts des Kontrasts erschrickt: Mystisch ist dieses geschichtsgetränkte Land, das lange vom sogenannten Fortschritt isoliert seinen eigenen Weg ging und vieles von dem bewahrt, in Steine, in die Gesichter der Menschen und ihre Handlungen gezeichnet hat, was wir in unserer westeuropäischen Zivilisation verbannt, vergessen haben und höchstens noch erahnen. Plötzlich werden die Gedanken beim Anblick und Studium all dessen existenziell, und es kann passieren, dass der Tourist seine Reisepläne um die Suche nach seiner Selbst erweitert, er fühlt sich Teil eines grossen Ganzen und beginnt über Geschichte und Zeitenläufe, sein Leben und seine Begrenztheit ehrfurchtsvoll nachzudenken.

Inbegriff all dessen, da seit Jahrtausenden kontinuierlich besiedelt und bewohnt, ist Matera. Die Stadt der Sassi, der Felsenwohnungen, ist eine der ältesten Städte der Welt. Diese archaische, in Stein gehauene Schönheit, trägt 2019 den Titel Kulturhauptstadt Europas – Zeit, Christus endlich über Eboli hinauszubegleiten und ihn von meiner zweiten Heimat zu erzählen.

Materas Renaissance

Europa, ja die ganze Welt, blickt nun genauer hin: Matera tritt aus dem Hintergrund hervor – nicht nur Filmkulisse wie in zahlreichen Bibel- und Monumentalfilmen: Matera erwacht und lernt seinen eigenen Wert erkennen und schätzen. Einst Kulturschande Italiens, nun Kulturhauptstadt Europas .

Die Funktion und der Titel einer Kulturhauptstadt besteht darin, Europa die Kultur, Geschichte und Menschen einer Region zu zeigen. Das hat mich im Falle von Matera, gut 30 Kilometer vom Dorf meines Vaters (Pomarico) entfernt inspiriert. Ich habe meine unzähligen Reisenotizen hervorgenommen und möchte die Gedanken in Erzählungen und Erinnerungen fassen. – Sehr persönlich.

Natürlich ist die Basilicata mehr als Matera. Es ist eine vielgestaltige Provinz und wie erwähnt geografisch ein besonderer Ort, was historisch bedeutend ist: Hier kreuzen sich der Weg zwischen zwei Meeren und die Verbindung von Süden nach Norden und war damit seit Anbeginn aller Zeiten Begegnungsort und Schmelztiegel von Völkern und Ideen, die Europa kultiviert haben. Seit Anbeginn Land der Einwanderung und des Weiterreisens – meine eigene Geschichte ist Teil davon, meine Lebenserinnerungen sind geprägt davon, was mein Vater aus seiner Heimat in die Schweiz mitgenommen hat.

Ein Reisebegleiter

Ich füge mich daher mit den hier vorliegenden Texten nicht in die Reihe der unterdessen unzähligen gedruckten Reiseführer, Blogs und andere Berichte ein. Ich möchte keinen Reiseführer schreiben und habe schon gar keinen Anspruch auf Vollständigkeit und auf detaillierte Überprüfung. Es sind Gedanken, Einblicke aus vielen Jahren Begegnung mit meiner eigenen Familien- und Herkunftsgeschichte.

Das Projekt ist als Blog gestartet. Einzelne Texte wurden vorab auch anderweitig in gekürzter Form veröffentlicht (etwa auf dem Blog der Zürcher Landeskirche http://www.diesseits.ch). Ich wollte möglichst viel über die Herkunftsgegend meines Vaters erfahren und habe mich entschieden, während eines Jahres ganz frei Episoden zu verfassen. Die Kapitel sind zum Teil sehr reichhaltig, haben aber meist einen thematischen Schwerpunkt, den sie assoziativ bearbeiten, erzählend, manchmal fiktional. Die Kapitel ergänzen sich, können aber auch unabhängig voneinander gelesen werden. Die Strukturierung erfolgte im Nachhinein entlang des jeweiligen Hauptthemas in Rubriken.

Ziel war nicht, ein Reiseführer zu verfassen – davon gibt es bereits einige. Das Schreibprojekt versteht sich vielmehr als Reisebegleiter.

Ich nehme aufgrund der Projektanlage in Kauf, dass es Redundanzen, Wiederholungen hat. Ich halte aus, dass man meist noch mehr sagen oder ich auch schlicht etwas vergessen haben könnte. Ich habe keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder allumfassende Richtigkeit und lasse mich gerne korrigieren. Ich bin weder Philosoph noch Ethnologe, vielleicht sage ich da und dort Banales, ereifere mich gerne auch etwas wachstums-, konsumkritisch, wenn ich den letzten Resten einer unglaublich bescheidenen ruralen Gesellschaft begegne, die den Reichtum in der Armut erkennen lässt. Alternativen schärfen den Verstand; Armut lehrt («la miseria insegna» – so sprach man schon über Sophia Loreen). Dennoch: Ich bin dort auf diese Gedanken gekommen. Nur spärlich Fussnoten: Wen etwas zur Vertiefung interessiert, darf sich zum eigenen Recherchieren und Entdecken eingeladen fühlen. Man könnte die Texte als Gedankenreportagen bezeichnen. Einiges ist aus persönlicher Erfahrung, anderes habe ich sogar noch nicht selbst besucht, aber im Internet etwas erforschen, bei Leuten nachfragen, etwas erzählt bekommen – auch das sind auch Reisen.

«Veni, vidi, scripsi» – ich kam, sah und schrieb. Keine Angst, ich eifere nicht Cäsar nach, der mit den Worten «ich kam, sah und siegte» mir sozusagen die Vorlage gab. Aber das Schreiben ist ja vielleicht auch eine Art, sich nach und nach etwas zu eigen zu machen. Natürlich ohne kriegerische Absichten, ein Ankommen der eigenen Art – das ich gerne mit den Leserinnen und Lesern teile. In diesem Sinn: Ich wünsche viel Vergnügen, Anregung und freue mich über Leser/innen, die sich gerne auf den Weg in mein Lukanien machen und etwas von meinen Gedanken mitnehmen möchten.

Eine Art literarischer Reisebegleiter: Nehmen Sie ihre Reiseführer und Internetrecherchen über dieses wundervolle Land mit – meine Gedanken ergänzen und blicken vielleicht da und dort etwas tiefer, um dieses wundervolle Land besser zu verstehen.


Ein Wort zu meiner Person

Ich bin 1976 in der Schweiz geboren und aufgewachsen und wurde seit meiner Geburt «Doppelbürger» genannt, was angesichts von Fussballweltmeisterschaften und Militärdienst immer wieder zu denkwürdigen Situationen geführt hat. Die Frage nach der eigenen Identität, nach Sein, Werden, Veränderung, damit das stete Hinterfragen dessen, was andere selbstverständlicher nehmen, eine gewisse Fähigkeit des sich Arrangierens und Problemlösens, vielleicht auch der ursprüngliche Beweggrund, Geschichte zu studieren, liegt in diesem kulturellen Spagat begründet, der meine Persönlichkeit geprägt hat: die Mutter Schweizerin, letztlich auch mit Migrationshintergrund (Appenzellerin, geboren und aufgewachsen im Thurgau), ich der Älteste in einer kinderreichen Familie. Das Reisen in die Basilicata, zuerst in jungen Jahren «patriarchal» verordnet, später selbst gesucht, hat natürlich etwas mit der Beziehung zu meinem Vater zu tun, aber auch mit einer Suche nach mir selbst und letztlich mit dem Blick des Historikers und Geisteswissenschaftlers mit dem Aufspüren dessen, was über mich hinausweist. – Aber keinesfalls ist damit angedeutet, dass mir meine Mutter weniger bedeutet oder weniger wichtig für mich gewesen wäre – im Gegenteil. Sie hat ja diesen Mann geheiratet und letztlich war es ihr Vater, der mich gelehrt hat, auf meine Neugier zu hören und er war es, der mir das Erzählen beigebracht hat.


Dieses Buch widme ich meinem Vater, meiner ganzen Familie und ganz besonders meiner Freundin Dea. Auf einem Spaziergang durch Pomarico habe ich sie kennengelernt. Davor bin ich ihr unzählige Male begegnet, bis uns das Schicksal einander endlich vorgestellt hatte. Sie ist gewissermassen meine Inspiration, mein Herkunftsland zu entdecken, und meine Ermutigung zur Kreativität, dem Ruf des Schreibens zu folgen und diesen Weg weiterzugehen.

Hinweis – 14.1.2019: Der vorliegende Text wurde im Rahmen des Blogprojekts Terra di Matera: Basilicata – Reisen, Gedanken und Erinnerungen geschrieben und gilt nunmehr als nicht mehr weiter bearbeiteter oder korrigierter Entwurf für das Buch «Matera, die Basilicata und ich: Ein persönlicher und literarischer Reisebegleiter auf der Suche nach dem mystischen Herzen Süditaliens».
Alle mit diesem Hinweis gekennzeichneten Kapitel wurden für das Buch inhaltlich überarbeitet, mit Ergänzungen versehen und sprachlich korrigiert und erscheinen damit gedruckt in lektorierter Form. Freuen Sie sich auf mehr Lesevergnügen!