«Ich bin dunkel, aber schön» – Die Königin der Basilicata

Etwas so nebenbei: «Weisst Du, dass die Basilicata eine Königin hat?» – Christus macht ein erstauntes Gesicht. «Ja, die Bauern und Hirten haben eine mächtige Beschützerin. Es ist niemand geringeres als deine Mutter…». Ich blättere gerade in einem Reiseführer und zeige Christus das Bild einer thronenden Madonna mit Kind. «Oh, da bin ich ja schon wieder», lächelt Christus, der sich auf dieser Reise schon so oft gekreuzigt oder beim Jüngsten Gericht angetroffen hat. «Papst Leo XIII. hat die Madonna von Viggiano 1892 zur Königin der Basilicata ernannt.» – «Wie kommt er dazu?», wundert sich Christus. Zu Recht; darüber schweigen sich die Reiseführer aus.

Man darf nur mutmassen oder müsste sich mit Kirchenpolitik befassen. – Aber wer ist diese Madonna? Carlo Levi spricht an mehreren Stellen von der Madonna – mit einem «mürrischen Gesicht» (S. 130) – in seinem Roman und beschreibt eigentlich eine Göttin: «Diese schwarze Madonna ist wie die Erde: sie kann alles vollbringen, zerstören und Blüten hervortreiben, aber sie kümmert sich um niemanden und lässt die Jahreszeiten nach ihrem unerforschlichen Willen abrollen. Die schwarze Madonna ist für die Bauern weder gut noch böse: sie ist viel mehr. Sie lässt Ernten verdorren und tötet, aber sie nährt und beschützt auch, und man muss sie anbeten. In allen Häusern ist die Madonna von Viggiano zu Häupten des Bettes mit vier Nägeln an der Wand angeheftet und wohnt mit ihren grossen, blicklosen Augen im schwarzen Antlitz allen Lebensereignissen bei (S. 129).»

Von der Göttin zur Heiligen

Auf dieser antiken Erde voller Opfer, Tränen und Wundertaten begegnet man Heiligtümern auf Schritt und Tritt. Nicht selten erschien die Mutter Gottes an Orten, wo schon die alten Völker Süditaliens ihre Mutter- und Fruchtbarkeitsgottheiten ehrten, und ebenso häufig lassen sich just in der Form der Huldigung antike, vorchristliche Elemente wiedererkennen. In der Verehrung der Heiligen begegnen sich, von der Kirche kritisch beäugt und doch geduldet[1], vorchristliche und katholische Riten, Praktiken, Formeln und Gesten.

Dass Mütter in der Basilicata bis heute eine ganz besondere Rolle spielen, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Manch gedehnter Bauch nach Ferienreisen weiss davon zu berichten und das Bild der italienischen Übermutter mit ihrer überbordenden Liebe als Zentrum der Sippe, zuständig für das Funktionieren der Familie und die religiösen Geschäfte ist nicht nur Klischee, sondern das Fundament einer eigenen Form des Matriarchats (oder führt ein solches in Stille fort). Frauen allgemein haben eine besondere Macht und Bedeutung; und wenn auch die katholische Kirche, und mit ihr verbunden die weltliche, von Männern dominierte Macht, diese über die Jahrhunderte immer wieder zu beschneiden suchte, stellt man doch ein merkwürdiges Nebeneinander der Traditionen fest, das punktuell noch weiterrauscht. Die sogenannten Klageweiber übertönten die Litaneien der Priester bei Beerdigungen. Das dies heute, aber vergleichsweise erst seit kurzem, vorbei ist, dünkt mich bezeichnend.

Ob mit der Krönung der Madonna von Viggiano zur Königin Lukaniens, mit ihrer Vergoldung noch im Jahr 1965, zwar der Tradition Lukaniens ein Gefallen, aber letztlich doch eher der Kirche und damit ihrem anhaltenden Siegeszug über das bäuerliche Glaubenssystem ein Dienst getan worden war? Wenige Jahre nachdem die Schutzgöttin der Bauern und Hirten den Widerstand der Briganten gegen das alles zu verschlingen suchende Königreich Italien im Stich gelassen hatte, gegen die Waffen des sogenannt zivilisierten Nordens nichts ausrichten konnte und das Schwert St. Michaels gegen die Kolonisation Piemonts stumpf geworden ist?

Patrona und Sinnbild der Basilicata

Dennoch dünkt mich, auch wenn ich sie bisher nicht einmal persönlich kenne, dass sich in dieser Madonna so mancher Aspekt der wechselvollen Geschichte und Identität der Basilicata spiegelt, so dass sie mit Recht immer noch als repräsentierende Königin der Region betrachtet werden darf. «Ich bin schwarz, aber schön», sinniert Christus. So heisst es doch im Hohelied (1,5) in der Bibel. Vielleicht sollte es heissen, schwarz und schön, denn schwarz steht hier nicht für einen Gegensatz. Schwarze Madonnen gelten als besonders wundertätig. Wer weiss, ob einem gerade in diesem Fall die Anknüpfung an die alten Gottheiten wie Demeter, Ceres, Artemis und Co. – die alten Fruchtbarkeits-, Mutter- und Erdgöttinnen – ins Auge springt.

Augenfällig ist die Ähnlichkeit dieser Madonna zu griechischen Ikonen und damit die Erinnerung daran, dass die Basilicata einst zum byzantinischen Reich gehörte. Basilianische Mönche dürften die intensive Verehrung der Maria in der Gegend verwurzelt haben. Viele dieser schwarzen Figuren im Süden entstanden im Gefolge der Kreuzzüge. – Die Filmfigur Rocco Santamaria begegnet der hölzernen Schönheit im Film «Basilicata Coast to Coast», und plötzlich ist der berühmte Sänger nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit. Ein Junge erklärt ihm, dass die Madonna, die im gläsernen Kasten auf den Schultern von 12 Männern getragen wird, ein Sinnbild für die Verbindung zwischen Ost und West darstellt.[2] Interessant! Und wie sie im Laufe ihres Lebens umgestaltet worden ist, erinnert sie doch auch jeweils an die früheren Herrscher über die Basilicata, zuletzt an die Spanier. Gleicht sie nicht auch etwas der berühmten Schwarzen Madonna von Montserrat, der Schutzpatronin Kataloniens (die sie übrigens auch dank des gleichen Papstes geworden ist)? Ihre Wichtigkeit wird bis jüngst von ganz oben unterstrichen: Papst Johannes Paul II., der seinerseits in der Gegend neben Padre Pio höchste Verehrung geniesst, hat für eine neue Bekrönung der Madonna gesorgt.

Kunsthistoriker verorten die Königin gleichwohl ins ausgehende 13. Jahrhundert. Die Volkssage weiss mehr: Ursprünglich sei das Bildnis im frühen Mittelalter in der Kathedrale des antiken Grumentum verehrt worden. Nachdem der Ort von den Sarazenen bestürmt worden war, rettete man die Statue im 11. Jahrhundert auf den Berg des Sacro Monte, wo sie später von Hirten wieder aufgefunden worden war. Ein merkwürdiger Feuerschein soll sie zu ihr geführt haben und man vernichtete die präsenten alten Götter, errichtete dort eine Kapelle, später eine Kirche; nach einem Erdbeben im 19. Jahrhundert folgte der heute bestehende Bau.[3]

Das «Texas Italiens» und seine Mahnerin?

Regina della Lucania: Bald verliert die Madonna ihre Schäfchen. Zunächst ist nicht nur das alte Bauern- und Hirtentum dem Niedergang geweiht. Auch das traditionelle Handwerk ist schon längst bedroht, wenn nicht gar verschwunden. Viggiano – das heute mit dem kirchlichen «Label» Marienstadt, Città di Maria, wirbt – war zum Beispiel seit dem 17. Jahrhundert noch für etwas ganz anderes berühmt, das nur dem aufmerksamen Reisenden auffällt: Harfenbau und Wandermusiker. Zunächst im Königreich, ab dem 19. Jahrhundert auch über den Atlantik, wurden diese besonderen Künste aus der abgelegenen Ecke Süditaliens getragen. Wandermusiker gibt es heute nicht mehr, der Harfenbau wird von wenigen noch weitergeführt.

Hilf dir selbst, so hilft dir …

Von den Sarazenen bis zum modernen Staat hat die schwarze Madonna viele Eroberer ins Land kommen sehen, schaut mit ihrem in die Weite gehenden Blick auf das Agrital, wo nach Erdöl gebohrt wird. In diesem modernen «Texas Italiens» mit einem der grössten Erdölvorkommen Europas wird sie noch immer in feierlichen Prozessionen am ersten Maisonntag auf den Berg getragen, empfängt die Pilgerreisenden und wandert schliesslich in einem Triumphzug am ersten Septembersonntag wieder nach Viggiano in die Chiesa Madre zurück. – Bleibt sie so gleichgültig aller Huldigungen zum Trotz, wie Levi einst konstatierte, da dies auch ihr eigenes Verschwinden in die Vergessenheit bedeuten könnte?[4] – Manch einer wird vielleicht still dafür beten, dass die Traditionen Lukaniens und seine Landschaft nicht dem Erdöl und gänzlich dem Hohelied des Fortschritts geopfert werden mögen. «Die Madonna wird sich selbst aber so wenig helfen, wie ich das in der Wüste oder am Kreuz getan habe», sinniert Christus. Die Verantwortung dafür, dass die Zukunft der lukanischen Schönheit nicht so dunkel wie Mariens Holz erscheint, liegt nicht auf den 12 Schultern ihrer Träger, sondern in der anpackenden Kraft von Menschen, die nicht nur ergeben an die Wirkmächtigkeit ihrer Königin und demütig der Unergründlichkeit ihrer Entscheide oder Indifferenz, sondern auch an sich selbst und die Möglichkeiten von Land und Leuten glauben.

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Gesamtansicht von vorne, Madonna di Viggiano mit dem segnenden Kind auf dem Schoss. (Bildquelle: http://www.mariadinazareth.it/www2005/Prodigi%20luminosi/Madonna%20Nera%20di%20Viggiano.htm)

 

Hinweis – 14.1.2019: Der vorliegende Text wurde im Rahmen des Blogprojekts «Terra di Matera: Basilicata – Reisen, Gedanken und Erinnerungen» geschrieben und gilt nunmehr als nicht mehr weiter bearbeiteter oder korrigierter Entwurf für das Buch «Matera, die Basilicata und ich: Ein persönlicher und literarischer Reisebegleiter auf der Suche nach dem mystischen Herzen Süditaliens».
Alle mit diesem Hinweis gekennzeichneten Kapitel wurden für das Buch inhaltlich überarbeitet, mit Ergänzungen versehen und sprachlich korrigiert und erscheinen damit gedruckt in lektorierter Form. Freuen Sie sich auf mehr Lesevergnügen!


[1] Man darf wohl auch nicht die Bestrebungen der Kirche ausser Acht lassen, besonders seit der Gegenreformation, den Katholizismus auf der ganzen Halbinsel zu reformieren und zu vereinheitlichen. Die Jesuiten spielten da eine nicht unwesentliche Rolle. Für sie musste der Süden Italiens in etwa gleich fremd vorgekommen sein wie den Spaniern das vermeintliche Indien (Amerika). Sie trafen hier uralte Kulte und Riten an, meine Freundin erzählt sogar von Religionsformen, die über die Römer einst aus dem Orient «importiert» worden waren (etwa der Mitraskult). – Unterstützung in ihrem Tun erhielten die Jesuiten dabei sicher auch von «höherer Gewalt»: Angesichts von Pest- und anderen Epidemien versuchten sie die südlichen Völker nach und nach zu überzeugen, dass zum Beispiel der forcierte Marienkult Gut- und Richtiggläubige verschont. Umso interessanter die Fügung der Geschichte, dass sich darin dennoch lokale Traditionen integrieren und damit halten konnten.

[2] Vgl. den Filmausschnitt: https://www.youtube.com/watch?v=aoPeTdxOK6Y – (Link geprüft am 16.1.2018).

[3] Über dieser Geschichte liest man Verschiedenes. Eine gute Einführung mit Links liefert unter anderem der Wikipedia-Artikel über den Wallfahrtsort: https://it.wikipedia.org/wiki/Santuario_della_Madonna_Nera_del_Sacro_Monte_di_Viggiano – (Link geprüft am 16.1.2018).

[4] Levi beschreibt ihre Gleichgültigkeit angesichts einer Dürre, welche die Olivenbäume in Mitleidenschaft gezogen hat, S. 129.

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