Einblicke: Das unsichtbare Herz Süditaliens

Der Film beginnt monumental: Langsam dreht sich der Globus, und wie die Ansicht mit Afrika und Europa ins Blickfeld kommt, hört man eine Stimme: «Buongiorno, ich bin Gott.» – Hoppla! – War ja klar: Nachdem Christus angeblich nur bis Eboli gekommen ist, musste sich irgendwann ja einmal sein Vater melden, um nach dem Rechten zu sehen. Mit getragener, aber eindeutig dialektal gefärbter Stimme richtet er aber zunächst einen Appell an die Menschheit; in etwa: «Macht euch auf die Suche nach einer Leidenschaft, eignet sie euch an und folgt ihr innig bis in alle Tiefe nach.»

«Coast to Coast»: Ein Zoom ins Nichts

Während Gott im Intro dieses Films so spricht, zoomt die Kamera langsam auf den Süden des italienischen Stiefels zu, und man bemerkt bald, dass in dessen «Fusssohle» ein ganzes Stück fehlt! Ein hellblaues Meer zwischen Kampanien, Kalabrien und Apulien, ein Nichts.

Doch halt! Hier bricht Gott nach den gehaltvollen Worten – man meint, über den Sinn des Lebens –plötzlich ab. Der Sprecher fällt aus seiner Rolle, es ist nicht mehr Gott, der uns nun fast leidenschaftlich seinen Frust spüren lässt: «Na gut, mit diesem Akzent bin ich nicht sonderlich glaubwürdig in meiner Rolle als Gott. – Dieser süditalienische Akzent, man weiss ja nicht einmal, was für ein Süden («meridione») das sein soll.» Was «Gott» ursprünglich zu sagen hatte, bleibt im Dunkeln. Das Folgende aber klingt wie ein Geständnis des Sprechers, das zu einem Manifest wird: «Also, dann sage ich es. Ich bin in der Basilicata geboren. Ja, die Basilicata existiert!» – Während das musikalische Intro weiterspielt, kommt die 21 Meter hohe Christus-Statue von Maratea ins Blickfeld. Il Redentore: der Erlöser. Christus ist also doch da.[1]

Ironie kann offenbar erlösend wirken. Die Musiker, die in diesem amüsanten Roadmovie «Basilicata Coast to Coast» zu Fuss von Maratea bis Scanzano Jonico durch die Basilicata wandern, spielen durch ihre Lieder ironisch mit der schon fast stereotypen Unsichtbarkeit dieser Region und zeigen in der Story, dass es in diesem vermeintlichen Nichts viel zu entdecken gibt, letztlich sogar sich selbst – jede der Filmfiguren auf ihre Weise. Und so ironisch wie der Film begonnen hat, hört er im Lied zum Schluss wieder auf: «Dass Christus nur bis Eboli gekommen ist, ist nicht unsere Schuld.» Man möge ihn und man habe ihm schliesslich wie zu einem Neujahrsfest alles vorbereitet – und man habe es auch alleine geschafft.[2]

Eine Sache des Glaubens

Die Basilicata existiert und ist zum geschätzten Reiseziel geworden. Christus hat mühsamere Reisen meines Wissens nicht gescheut. Er wusste wohl einfach bis anhin nichts von diesem Ort. Wie sagt der Sprecher im Film-Intro? «Die Basilicata – das ist in etwa so wie die Sache mit Gott: Man muss daran glauben. Ich glaube daran. Ich habe sie gesehen.»

Ich auch. Vielleicht habe ich mit dem schreibenden Reisen Gottes Appell zur Suche nach einer Leidenschaft bereits gehört, bevor ich diesem Film begegnet bin. Und vielleicht freut sich Gott ja auch ein wenig darüber, dass Christus da unten auf seiner Erde gerade ein Stück von ihm erschaffenes Land durchwandert, das so lange unsichtbar geblieben ist.

Doch man muss sehen wollen. – 2016 habe ich unter brütender Sonne auf der Landstrasse nach Bernalda, nachdem ich Pomarico Vecchio besucht und etwas wilden Thymian mit meinen Begleitern an den Borden gesammelt habe, Marc angetroffen: Dieser sympathische Belgier wanderte mit seinem Gepäck-Rolli zu Fuss durch ganz Italien und machte wohl die beneidenswert tiefsten Erfahrungen auf diesem Weg und diese Weise.

Lasst jede Hoffnung fahren …

Lässt man sich auf die Menschen ein, wird man mit dankbarer Herzlichkeit begrüsst. Aber ebenso begegnet man auch einem immer wieder Kopfschütteln: Mir schlägt auch heute noch von den Einheimischen ab und zu Verwunderung entgegen – mittlerweile weniger darüber, dass ich so oft herreise, aber darüber, dass ich sogar den öffentlichen Verkehr auch für die Bewegung innerhalb des Landes trotz aller (vermeintlichen) Strapazen nicht scheue. Es hält sich in den Köpfen hartnäckig und wird sarkastisch wiederholt: Man ist hier abgelegen und vergessen. Ein Reiseführer trifft es auf den Punkt: Frau Morese erzählt, dass ihre Freunde aus Matera sogar die Worte am Tor zur Hölle aus Dantes Divina Comedia zitieren, als sie von ihrem Vorhaben erzählt hat, die Gegend per Bus erkunden zu wollen. «Perdete ogni speranza o voi che entrate.» – «Lasst, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren.»[3]

Zumindest die Anreise ist um einiges leichter geworden seit meiner Kindheit. Für die Fortbewegung im Landesinneren braucht es auch heute bisweilen eine grosse Portion innerer Flexibilität, etwas Geduld, und es wird viel Wissen vorausgesetzt um Haltestellen, Fahrpläne und andere Geheimnisse wie das individuelle Verhältnis eines bestimmten Buschauffeurs zum Fahrplan, Standorte und Öffnungszeiten von Verkaufsstellen.[4] Dass Bahnhöfe nicht da sind, wo man eigentlich hinwill, ist im Süden verbreitet. Die letzten Kilometer sind dann halt in der Regel doch per Auto zu machen. (Wer kein Auto hat, lebt hier ohnehin nicht; das ist fast sprichwörtlich.) In unserer Gegend etwa liegen die Dörfer alle auf Hügeln und teilen sich in der Ebene des Fluss Basento einen Bahnhof: Ferrandina-Miglionico-Pomarico.

Mag sein, dass man vergleichsweise mühsamer reist. Doch die gewidmete Zeit hilft vielleicht, sich wirklich einzulassen und sein Herz zu öffnen für tiefe Wahrnehmungen und Eindrücke, die einen nicht mehr loslassen werden, Auszeit vom allzu zielstrebigen Denken, um Land und Leute viel direkter im verwurzelten Rhtythmus kennenzulernen. Wer sich in einen Raum begibt, der lange ausserhalb der Zeit zu existieren schien, wird ob den Entdeckungen staunen und spürt vielleicht sogar etwas vom ungefähr so lautenden Sprichwort: «Wer in der Basilicata ankommt, weint, aber wer von hier wieder weggeht, weint erst recht.» Es braucht alles etwas Zeit – und wer noch mehr davon aufbringen mag, der wird sich freuen, noch entlegenere Dörfer, Kirchen und andere lokale Schätze ruralen Lebens und Zeugen andernorts längst vergangener Zeiten auf abenteuerlichen Routen entdecken zu können.

Teil der anderen

Mir ist im Zug auf dem Weg zur Arbeit einmal ein Reiseprospekt aufgefallen, der ein asiatisches Sprichwort auf der Front trägt: «Es ist besser, etwas einmal selbst zu sehen, als tausendmal davon zu hören.» – Kling banal, ist es aber nicht, wenn man von einem Land erzählt, das kaum gesehen wird. Ich wage zu behaupten: In die Basilicata kommt niemand zufällig. Wer die Reise auf sich nimmt, trifft eine bewusste Entscheidung und lässt sich auf damit verbundene Erfahrungen ein, weil er davon gehört hat. – Die andere Realität: «Basilicata? Wo ist denn das? – Nie gehört.»

Obschon Matera selbst unterdessen bekannter geworden ist, ist die Region noch immer etwas abseits des landläufigen Bewusstseins, und immer wieder werde ich gefragt, wohin ich jeweils reise, woher mein Vater stammt. – Die Unsichtbarkeit des Landes hat mich ein Leben lang begleitet. Wie oft musste meine Antwort reichen, wenn man nicht von vornherein nach Sizilien verortet worden ist: «in der Nähe von Bari». – Bari oder Napoli, das sind die Referenzpunkte; «links neben Apulien» geht meist auch noch. In der Beschreibung wird man sich immer wieder bewusst: Die Basilicata mit seinen zwei Provinzen Matera und Potenza hat kein ausserhalb bekanntes Zentrum, mit dem man sich wie die Toskaner, Neapolitaner oder Römer brüstet – oder besser: keines mehr, denn das war nicht immer so. Fragen Sie Friedrich II., der in diesem Gebiet ein blühendes Königreich mit seiner Sommerresidenz in Melfi unterhalten hatte.

Reisen nach Apulien boomen, und nicht selten sieht man auf Prospekten für Rundreisen durch den «Absatz» einen Zacken auf der gezeichneten Route, der für einen Tag nach Matera führt. Der Rest ist kaum von Interesse. Matera scheint überhaupt von Apulien etwas vereinnahmt zu werden (was sich positiv zumindest in einem lange ersehnten Ausbau der Strasse nach Bari äussert). Politisch war das vor gut 1000 Jahren schon einmal der Fall, Matera war (bis 1663) Teil des Territoriums Otranto in Apulien. Und sogar aktuell geistern immer wieder Vorschläge für Gebietsreformen (Makro-Regionen) in Italien herum, in welchen die Basilicata aufgetrennt würde: Die Provinz Matera mit Apulien vereint, während der Potentino um Potenza Kalabrien zugeschlagen würde.

Für viele Menschen eine schreckliche Vorstellung; erst wenige Generationen von hier lebenden Menschen erlernen gerade ihre Identität, war das Gebiet doch in seiner Geschichte bis jüngst vor allem Teil der Geschichte anderer. Spätestens an dieser Stelle stellt sich doch die Frage: Was definiert einen aus sich selbst? Fremdbestimmung und starker Einfluss von den Rändern, kleinräumige Unterschiede und bisweilen auch Konkurrenz der beiden Zentren, wenn es um die Aufmerksamkeit von aussen geht – so etwas wie eine lukanische Identität zu proklamieren, scheint schwierig.

Volk ohne Namen?

Und das fängt beim Namen für die Region an – Lukanien oder Basilicata? Nach heutigem Sprachgebrauch, wonach man das Gebiet seit 1932 und nach kurzem (lukanischen) Intermezzo unter Mussolini (wieder) Basilicata nennt, würden die Menschen, die dort leben, ebenfalls unsichtbar sein: Es gibt im Italienischen kein Adjektiv zum Namen Basilicata und niemand würde die Menschen als Basilicatesi, Basilichesi oder sonst etwas in der Art bezeichnen. Man nennt sich hier LucaniLukaner. Die Bezeichnung Lukanien für das Land wird weiterhin sehr gern gehört; auch wenn historisch nicht das exakt gleiche Gebiet gemeint ist. Aber was spielt das im Alltag schon für eine Rolle. Das Leben hatte hier schon genug bittere Seiten, und wenn man das einmal zum Vorteil nutzen kann, dann wird aus dem berühmtesten der hiesigen Kräuterliköre eben ein Amaro Lucano. Etwas anderes käme nicht in Frage. – Sprache formt die Wirklichkeit; ich habe hier immer ein Minimum an Selbstbewusstsein vermutet, indem man sich auf ein postuliertes antikes «Volk» beruft, das letzte, das den Römern noch Widerstand geleistet hat. Im Nachhinein betrachtet würde ich der Geschichte sogar recht geben: Die Lukaner sind aus einer Mischung der damaligen Völker und Stämme entstanden – letztlich also das, was die Basilicata bis heute ausmacht, etwas Eigenes aus dem, was von rundherum auf diesem Boden zusammenfindet.

Grenzen finden in den Köpfen statt

Heute ist das zwar besser geworden, aber ich erinnere mich, wie oft ich auf der Suche nach Reiseführern, aber auch Literatur über die Küche und ihre Spezialitäten, die Weine und das Olivenöl diverse Publikationen gefunden habe, welche über die Nachbarsregionen und auch über die Basilicata sprechen. In der jüngsten Geschichte ist auch vorgekommen, dass Gerichte in der geschäftstüchtigeren Nachbarschaft als deren eigene gewissermassen unter den Nagel gerissen worden sind. Die Orecchiette con le (cime di) rape in Apulien sind so ein Fall. Die apulische Nonna, welche das Rezept für die eingemachten Lampascioni gemäss Etikett auf den Gläsern in Bari geliefert haben soll, könnte ebenso gut meine gewesen sein (welche diese Kunst, nebenbei, von Hand und ohne E- und andere Stoffe, bestens beherrschte und nie anderswo als in Pomarico gelebt hatte). Wunderbare Cicorie kocht man dies- und jenseits gleichermassen. Rezepte, Traditionen, nicht einmal Dialekte enden an den Grenzen.

Die Basilicata hat zwar sehr viele, zum Teil sehr kleinräumige Dialekte, ist aber sehr dünn besiedelt. Auf den gut 10‘000 km2 leben etwa 570‘000 Menschen – und wohl ebenso viele auswärts. Lukanien ist also überall. Schon immer wanderten hier Menschen aus und vor allem durch; schon in frühester Menschheitsgeschichte: Vor etwa 130‘000 Jahren fiel bei Altamura ein Mann in eine Grotte, sein Skelett wurde 1993 entdeckt. Es ist ein Zufall der Geschichte, dass Altamura heute in Apulien liegt, während das nur wenige Kilometer entfernte Matera zur Basilicata gehört. Der damalige homo sapiens war auf der Ebene der Murgia unterwegs. Und so wenig wie er damals kann ein heute hier ankommender Tourist in der Landschaft eine sichtbare (Kultur-)Grenze ausmachen – gutes (und sehr ähnliches) Brot gibt es heute auf beiden Seiten der Marke.

Und was sich ebenfalls nicht an – politische – Grenzen hält, ist das Wetter. Die Unsichtbarkeit Lukaniens auf nationaler Ebene ist in Sachen Wetterbericht sprichwörtlich geworden. Was haben sich meine Verwandten und Bekannten jahrelang darüber aufgeregt, als es den nationalen Medien nicht in den Sinn gekommen war, dass auch die Basilicata ein Wetter und damit Anspruch auf eine Prognose hat. Es kann auch heute noch vorkommen, dass man kurz aufhorcht und den Kopf schüttelt. «Und wir?» Betrifft die Wolke über Apulien auch die Basilicata? – Ja, die Medien trugen zur Unsichtbarkeit der Basilicata auch auf nationaler Ebene bei, wo schon ein Fussballverein von grösserer Bedeutung fehlt. Für den Rest Italiens blieb das Land bestenfalls als jenes bekannt, das vor allem aus Grossgrundbesitz, Viehherden und Bauerndörfern bestand, ein Land, aus dem man auswandert. «Lì non c’è niente» – «Da gibt es nichts, hörte ich von norditalienischen Touristen, die ich im Ausland angetroffen und gefragt habe, warum sie nicht im eigenen Süden Ferien machen wollen.

Doch, auch die Basilicata hat ein Wetter. Und wie Kampanien, Kalabrien und Apulien brütet man unter der gleichen Sonne und wird mit wundervollen Sonnenuntergängen und einem bisweilen gross erscheinenden Mond beschenkt. Wer in die Basilicata reist, muss aber damit rechnen, dass es auch dort einmal regnet; das kann sintflutartig und sehr lokal geschehen. Insofern durchfährt man von einem trockenen Abschnitt in eine Regenfront schon bemerkenswerte Grenzen, aber die bestimmt Petrus. Gott hat anderes zu tun, Sie erinnern sich.

Das Herz des Südens

Zurück zu Gott. Wie sagt der Sänger im Intro des Films? «Es ist etwas wie die Sache mit Gott; entweder du glaubst daran oder nicht. Ich glaube an die Basilicata. Ich habe sie gesehen.»

Da, wo dieses «Loch» auf der Karte im Film «Basilicata Coast to Coast» ist, liegt ein Stück Land, das zu über 90 Prozent aus Bergen, Hügeln und Schluchten besteht und zwischen zwei Meeren liegt. Kaum nur ein imaginiertes Irgendwo. – Und ich wage zu behaupten, es ist angesichts der Tatsache, dass der Landstrich so lange abseits der Aufmerksamkeit, insbesondere der grossen Touristenströme, gestanden hat, eine der ursprünglichsten und schönsten Gegenden Italiens ist, die den Süden auf ganz besondere Weise repräsentiert. Man findet alles, was das offene Herz ersehnt: Eine archaische Atmosphäre unter hohem Himmel, grosse landschaftlichen Weiten, Strände, Naturpärke wie der grösste Italiens auf dem Pollino, aber auch Berge wie im Norden – etwa die Dolomiten Lukaniens mit den malerischen Städtchen Pietrapertosa und Castelmezzano. Der Maler findet gelbe Kornfelder, wandernde und weidende Schafe zuhauf, Kühe wie die berühmten Mucche Poliche, schwarze Schweine, die neben dem gelb blühenden Finocchietto weiden, beides Zutaten der berühmtesten Fleischexporte. Wir finden wilde Natur mit vielfältiger Vegetation, dichte Wälder, klare Flüsse, Bäche und Seen, aber auch schroffe Kalkfelsen, im Materano die Murgia, in unserer Gegend die Calanchi, eine Art Lehmdünen entlang der Hügel. Eindrücklich zu sehen ist immer wieder, wie sich kleine und mittelgrosse mittelalterliche Dörfer auf den Gipfeln der Anhöhen festklammern, darunter einige, die nur auf geradezu abenteuerlichen Wegen zu erreichen sind. Es leben hier Menschen unterschiedlichsten Schlags – ich wage keine Charakterbeschreibung über alle hinweg, auch wenn man immer wieder hört, man sei hier bescheiden, fleissig und etwas stiller als etwa die Neapolitaner; vielleicht ist man über die Jahrhunderte etwas fügsamer geworden und tut einfach ohne Murren, was getan werden muss – Rebellion muss nicht immer laut erfolgen. Was ich aber unbedingt unterstreichen möchte: Die Familie wird hier hochgehalten, früher war es auch die Nachbarschaft. Fremde erfahren eine herzliche Gastfreundschaft und sollten nicht nur ein offenes Herz, sondern auch einen elastischen Magen mitbringen.

Identität ist Kopfsache

Wir befinden uns hier im Herz des Südens. Das Land hat aufgrund seiner geografischen Kreuzungslage selbstverständlich viel mit seinen Nachbarn gemeinsam, und vermutlich ist es gerade die Mischung, welche dieses kulturelle Labor im Herzen des Südens so einzigartig macht. Und diesen Schatz eines authentischen Teil Italiens gilt es zu betonen.

«Dass Christus nur bis Eboli gekommen ist, ist nicht unsere Schuld.» – Man schätzt zwar Carlo Levi noch heute[5], doch bekundet man die Mühe mit dem daraus erwachsenen Minderwertigkeitsmythos offener. Levi liebte die Menschen, die er hier angetroffen hat, und würde sich im Grab umdrehen angesichts dessen, was über Jahrzehnte aus seinem berühmtesten Satz gemacht worden ist. «Come dice Levi», wie Levi sagt – das Zitat und das Zitat des Zitates wurden zu einem fatalistischen Mantra über die chronische Rückständigkeit und Armut eines Landes, das die Bewohnerinnen und Bewohner leider nur allzu oft selbst wiederholen. Schluss damit: Identität ist Kopfsache!

Und so ist in vielen Köpfen auch Selbstbewusstsein und ein Stolz auf ein Gebiet entstanden, das sich nicht nur über seine Ränder definiert und als ein Land gesehen wird, das um nichts zu beneiden ist, aus dem man auswandert und das nicht einmal eine (eigene) Mafia haben soll. Es gibt auch das moderne Lukanien, das Raum für Innovation bietet.[6] Matera ist nicht mehr nur Filmkulisse, sondern betreibt auch aktive Filmförderung und belebt sich laufend mit immer neuen Festivals und Ideen. Kulturschätze werden zumindest in den Zentren bewusster geschützt und als Zeichen der eigenen Identität sichtbar gemacht.

Im Protest gegen die grossen Ölbarone flackert zeitweise sogar etwas von der alten Energie des Brigantenwesens – der Widerstand im jungen Italien des 19. Jahrhunderts gegen die als Willkür empfundene und nicht selten brutal durchgesetzte Staatsgewalt von aussen – durch. Auch wenn die Interessen zumindest auf politischer Ebene abzuwägen sind: Die Ölfirmen treten schliesslich auch als Sponsoren und Arbeitgeber auf. Viele Lukaner fühlen sich dennoch ein weiteres Mal ausgebeutet: Die Umweltverschmutzung ist das eine und gefährdet den gerade aufkeimenden Tourismus und die Grundlagen der im Abseits geschützten und im Zeitalter des Slow- und anderen Foods geschätzte genuine Ernährungsweise. Das andere ist die Beteiligung und sichtbare Investitionen für alle: Müssten die Lukaner nicht reicher sein, wenn ihr Öl 80 % der italienischen Produktion darstellen und ihre Vorräte als die reichsten Europas gelten sollen?

Im Unterschied zu früher kann heute niemand mehr mit Blick von aussen kommen, in diesem unsichtbaren Land würden nur Rückständige, Analphabeten und Ignoranten leben. Auch ausgewanderte prominente Namen wie der immer wieder erwähnte Francis Ford Coppola werden heute bewusster mit ihren lukanischen Wurzeln in Verbindung gebracht.

Trotz allem: Es ist noch viel zu tun. Die Basilicata lässt sich aber nicht mehr abhängen. Die Ankunft des Hochgeschwindigkeitszuges Frecciarossa, der sich ab (Napoli-) Salerno Richtung Taranto schlängelt, war da 2016 ein Höhepunkt. Man darf weiter hoffen, dass nach Jahren des Bau-Stillstands auch der seit Urzeiten ersehnte Bahnanschluss Materas (von Ferrandina über Miglionico nach Matera La Martella) ans italienische Normalspurnetz dereinst doch noch Realität wird.

 

Das Titelbild ist dem youtube-Film (Screenshot) entnommen worden: https://www.youtube.com/watch?v=D5mYx-9S2i8


Hinweis – 14.1.2019: Der vorliegende Text wurde im Rahmen des Blogprojekts «Terra di Matera: Basilicata – Reisen, Gedanken und Erinnerungen» geschrieben und gilt nunmehr als nicht mehr weiter bearbeiteter oder korrigierter Entwurf für das Buch «Matera, die Basilicata und ich: Ein persönlicher und literarischer Reisebegleiter auf der Suche nach dem mystischen Herzen Süditaliens».
Alle mit diesem Hinweis gekennzeichneten Kapitel wurden für das Buch inhaltlich überarbeitet, mit Ergänzungen versehen und sprachlich korrigiert und erscheinen damit gedruckt in lektorierter Form. Freuen Sie sich auf mehr Lesevergnügen!

[1] Das Intro des Filmes «Basilicata Coast to Coast» von Rocco Papaleo (2010) kann hier eingesehen werden: https://www.youtube.com/watch?v=D5mYx-9S2i8 – Informationen über den Film: https://it.wikipedia.org/wiki/Basilicata_coast_to_coast – Links besucht am 17.9.2017.

Der Liedtext ist im Kapitel «Basta che si sta bene» abgedruckt.

[2] Das Schlusslied hier: https://www.youtube.com/watch?v=_RGgRZ7lw5g – Link besucht am 15.9.2017.

[3] Morese, Gebrauchsanweisung für Apulien und die Basilikata, S. 11.

[4] Anreise: Die Bahnanbindungen sind um einiges besser geworden und sind – aus der Schweiz etwa – mittlerweile auch im Tagessprung zu schaffen. Die wichtigsten Einfallstore vom Norden her kommend sind Bari und Napoli. Von Bari führt die Schmalspurstrecke der Ferrovie Appulo Lucane FAL nach Matera. Potenza kann auch etwa von Foggia aus erreicht werden. Napoli ist sehr komfortabel mit Hochgeschwindigkeitszügen (Trenitalias Frecciarossa oder die private Firma Nuovo Trasporto Viaggiatori NTV mit ihrem Italo) erschlossen, wovon derzeit ein Frecciarossa von Mailand her kommend sogar bis Taranto (Halt in Ferrandina-Miglionico-Pomarico) durchgebunden ist. Intercity- und Regionalzüge führen über die Strecken Napoli-Salerno-Battipaglia-Potenza-Grassano-Ferrandina-Metaponto-Taranto ins Herz des Südens. Neuerdings bieten die grossen Bahnen auch sogenannte Links an: Busse mit direktem Anschluss auf die Hochgeschwindigkeitszüge direkt nach Matera und Ferrandina. Einige nationale und internationale Busunternehmen führen ebenfalls in die Gegend (etwa Autolinee Marino, Manieri Lines, Ventre, Miccolis, Centro Sud Autolinee, Flixbus). – Die Basilicata verfügt über keine grösseren Flughäfen (Pisticci ist erst für kleine Touristenflieger aktiv), man reist am besten über Bari oder Brindisi, unter Umständen auch Napoli, Lamezia Terme ist etwas weit entfernt. Einige Shuttle-Busse (Pugliairbus) führen dann vom Flughafen weiter. – Bewegen im Land: Neben der wenigen Eisenbahnstrecken am besten per Mietauto. Sonst stehen verschiedene Bus-Unternehmen zur Verfügung, und hier gilt: Fragen …

[5] Das Museum im Palazzo Lanfranchi in Matera widmet ihm einen ganzen Flügel. Ein Besuch in Aliano, wo Levi begraben liegt, lohnt sich allemal, als Gedenkstätte, aber auch als Beispiel für ein Dorf in der Provinz Matera, das viel an Authentizität bewahrt hat. Verwandte von mir sagen, dass Aliano sehr mit Pomarico, etwa auch in Bezug auf die Landschaft, die «Calanchi» im Besonderen, vergleichbar sei.

[6] Vgl. die Ausführungen von Morese über das «Basilicon Valley» in Gebrauchsanweisung, S. 173 ff.

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