Ein Bekannter in Pomarico erzählt mir folgende Geschichte und forderte mich auf, seine Beobachtungen umgehend auf Google-Maps nachzuvollziehen, ein multimediales Erlebnis also:
1969 verbringt er seine Sommerferien in Riccione bei Rimini. Der aufmerksame Tourist aus dem Süden bemerkt bald, dass er an diesem Ferienort in ganz Italien in den Ferien zu Gast zu sein scheint und ganz Italien zu Gast in Riccione: Die örtlichen Behörden haben hier die Strassennamen mit unzähligen Namen von Regionen, Städten und Personen Italiens versehen. Das ist soweit in einer italienischen Stadt nicht ungewöhnlich. Matera ist, wie ich sehe, vertreten, zwei Mal sogar: Da gibt es eine Via Matera und eine Viale Matera. Eine schöne Ehre. In die letztere mündet eine längere Viale Basilicata, von welcher mir besagter Bekannter erzählen will. Soweit so gut, man weiss ja, woher man kommt. Nichtsahnend geht der offene Geist Richtung Badestrand und bemerkt dann doch eine Besonderheit, jetzt wird’s auch ihm zu viel: Parallel zur Viale Matera und der Viale Potenza erblickt er die Via Lucania!
Da sei doch Matera als Kulturhauptstadt 2019 aus dem Schlund des Schattenkegels herausgetreten, der die Stadt verschlungen gehalten hat, aber noch immer sähe man nicht, dass Lukanien und Basilicata ein und dasselbe Land seien! Für ihn Fehler und Ehre zugleich.
Es werde Licht. Aufklärung tut not. – Kein Reiseführer kommt darum herum, zu erklären, dass die Menschen in unserer Gegend Lukaner heissen, die Gegend aber Basilicata. Den wenigsten Reisenden aber ist es eigentlich wirklich bewusst und wenn, dann wundern sie sich, dass die Leute vor Ort lieber von Lukanien als von der Basilicata sprechen.[1]
Bittere Noten
Der Kräuterlikör Amaro Lucano schmeckt bitter, aber er hilft, die Vorgeschichte zu verdauen. Lukanien ist der ältere Name und trotz des vermeintlichen Glanzes hängen ihm wie auch dem Namen Basilicata bittere Noten an. Doch die historische Basis ist nicht entscheidend, wesentlich ist, was das kollektive Gedächtnis daraus macht. – Der Reihe nach:
Ob nun ein Volk nach der Gegend oder die Gegend nach einem Volk bezeichnet wird, beides ist in der Sprach- und Kulturgeschichte möglich. Das Volk kann wiederum nach seiner Herkunft oder einem Anführer, nach einer ihm zugeschriebenen Eigenschaft seinen Namen erhalten. Man unterscheidet zudem zwischen Fremd- und Eigenbezeichnungen. – Was bei den Lukanern zutrifft, wird trotz des etymologisch glanzvollen Namens, worauf ich gleich komme, im Dunkeln bleiben. Es würde mich nicht wundern und zur Basilicata mit ihrer Kulturgeschichte passen, wenn von allem etwas zuträfe. – Und: Ungeachtet dessen, ob man in einem Gebiet, das derart von Wanderung, Eroberung und Durchmischung von Menschen und Stämmen geprägt ist, überhaupt von einem Volk sprechen kann, geht man doch davon aus, dass im 5. Jahrhundert vor Christus in unserer Gegend die Lukaner ein relativ homogenes italisches – eben – Volk siedelte. Das letzte, bevor die Basilicata romanisiert worden ist.[2] Die Römer wiederum haben von hier Schweinswürste exportiert, die heute noch in verschiedensten Traditionen produziert und ausserhalb der Basilicata als Luganiga bekannt geworden sind!
Viel Schatten auf glanzvollem Namen
Warum also heisst die Gegend Lukanien? Das Land sei nach diesen Lukanern benannt worden, auch wenn einige der Erklärungen zur Namensherkunft dann doch wieder auf das Land selbst hinzudeuten scheinen. Soll es zum griechischen leucos gehören, dann wären wir bei weiss oder leuchtend; das damit verwandte lateinische lux – das Licht – erinnert daran. Klar, wenn die Basilicata uneingeschränkt als reich bezeichnet werden kann, dann in Bezug auf das Sonnenlicht. Eine Legende etwa soll gemäss Wikipedia erzählen, dass ein Volk nach Süden gewandert sei und sich dort niedergelassen habe, wo die Sonne aufgeht – Land des Lichts.[3]
Ob sich die Andeutungen auf Licht und Glanz auf das im römischen Reich untergegangene Volk der Lukaner beziehen und wir in der Basilicata eine Art Amselfeld des kollektiven Gedächtnisses vor uns haben, das wage ich zu bezweifeln. Hingegen findet man unschwer weisse, leuchtende Spuren im Gelände in der ganzen Gegend, in den Schluchten und Rissen der kalk- und lehmhaltigen Böden, an den Hängen, Ebenen und Schluchten, in den Lichtungen zwischen den Wäldern und der Macchia.– Also doch eine Bezeichnung nach der Landschaft?
Es «fuchst» einen eben schon, wie wir Schweizer sagen, wenn wir einer Sache genauer auf den Grund gehen wollen. So gebe es Meinungen, die im Namen der Lukaner den griechischen Lykos sehen, dann sind wir aber nicht beim Fuchs, sondern beim Wolf. Und da wäre mein persönliches Latein auch schon wieder am Ende. Vielleicht hiess auch einfach der Anführer eines besonders auffälligen oskisch-samnitischen Stammes Lucus und dann wäre es sinnvoll, man würde das Rätseln über die etymologische Vergangenheit des Volksnamens an dieser Stelle beenden. Kämpferischer, vielleicht ein glanzvoller Anführer. Basta. Nicht der erste, nicht der letzte Duce auf diesem Territorium. Dem letzten Duce zumindest gefiel der Name, so dass die Provinz während des Faschismus, also nur für kurze Zeit, wieder Lucania hiess.
Und dann ist da auch noch der lateinische Lucus – der Hain. Und da kommt die eine bittere Wahrheit ad lucem, ans Licht: Die Basilicata ist zwar noch immer reich an dichten und wundervollen Wäldern, aber einst noch um einiges mehr, viele Gebiete wurden seit Urzeiten durch extensive Nutzung entwaldet – klar, ein Schicksal, das die Gegend mit anderen rund ums Mittelmeer teilt. Im kollektiven Gedächtnis wohl kaum mehr bewusst, aber historisch gesehen ein Hinweis mehr darauf, dass man hier vor allem für die Interessen anderer ausgebeutet worden war.
Die Sache mit dem anderen Namen
Und da kommt an dieser Stelle der Name Basilicata ins Spiel, der es irgendwie auch nicht besser macht. Auch seine Etymologie liegt im Dunkeln und sein bitterer Beigeschmack ist fast typisch für die Geschichte der Region – er bezieht sich nun aber direkt auf‘s Land:
Es kann sein, dass der im frühen Mittelalter (10. Jahrhundert) auftauchende Name, wo wir uns hier noch im oströmischen Reich befinden, im Zusammenhang zu einem byzantinischen Verwaltungsmensch und seinen Aufgaben oder seinem Verwaltungsbezirk steht (dazu gehört Basileus – der König). Es kann sein, dass ein Bezug zur bischöflichen Kirche, der Basilika in Acerenza konkret, besteht. Diesen und vielleicht anderen Erklärungsansätzen gemeinsam ist, dass damit Verwaltung und fremde Herrschaft über die hiesigen Menschen mitschwingen.
Basilicata bleibt bis heute kein selbstgewählter Name; auch die italienische Verfassung von 1948 schreibt nach der faschistischen Renaissance des älteren Namens Lukanien vollendete Tatsachen vor, Rom hat gesprochen: Das Herz Süditaliens heisst Basilicata. Im Herzen bleiben die Menschen trotzdem Lukaner.
Wandelnde Grenzen und Identität(en)
Übrigens: Das Territorium der heutigen Basilicata deckt sich nach aktuellem Kenntnisstand nur teilweise mit der antiken Landschaft Lukanien. Einst reichte dieses weit in das heutige Kampanien und in die Provinz Salerno, ins Cilento, bis zum Fluss Sele. Andererseits war nordwärts beim Fluss Bradano Schluss. – Pomarico gehörte da also noch dazu, während Matera (Hauptstadt des apulischen Territoriums Otranto) und das Vulture-Gebiet noch fehlten. Horaz und der Wein Aglianico wurden also erst später lukanisch. Das Ganze aber zeigt die an sich banale Tatsache, wie sehr Grenzen historische Zufälle und wie Identität Kopfgeschichten darstellen. Die Identität der Basilicata hat viel von ihren Rändern und umgekehrt.
Vielleicht ist es einfach nur Tradition, dass die Bezeichnung Lukaner für die hier lebenden Menschen an diesen haften geblieben ist – so sehr, dass sie zur selbstverständlichen und damit nicht weiter reflektierten Eigenbezeichnung geworden ist. Basilicata war vielleicht zu sehr ein Verwaltungsbegriff und hat mit den Menschen nichts zu tun.
Und wenn da doch noch ein bewusster Reflex dagegen aufscheint? Da habe ich wiederum Verständnis dafür, wenn sich das kollektive Gedächtnis und damit Identität sowie Selbstbewusstsein einer Bevölkerung eines in der Geschichte praktisch nur fremdbestimmten Gebietes sich lieber an einem mehr oder weniger homogenen Volk in einer fernen Vergangenheit in einem definierbaren Siedlungsraum orientiert.
Die Stiftung, welche die Kampagne um die Kulturhauptstadt 2019 verantwortet, heisst übrigens «Matera Basilicata 2019» und ist damit nach meinem Verständnis Programm: Es sollen alle einbezogen sein – auch die Lukaner, die in der Basilicata leben …
Nett zu wissen: Das Wappen der Basilicata besteht aus einem sogenannten Samnitischen Schild (damit ist die Form gemeint) mit vier blauen Wellen auf silbrigem Grund. Diese repräsentieren die wichtigsten lukanischen Flüsse: Bradano, Basento, Agri und Sinni.
Hinweis – 14.1.2019: Der vorliegende Text wurde im Rahmen des Blogprojekts «Terra di Matera: Basilicata – Reisen, Gedanken und Erinnerungen» geschrieben und gilt nunmehr als nicht mehr weiter bearbeiteter oder korrigierter Entwurf für das Buch «Matera, die Basilicata und ich: Ein persönlicher und literarischer Reisebegleiter auf der Suche nach dem mystischen Herzen Süditaliens».
Alle mit diesem Hinweis gekennzeichneten Kapitel wurden für das Buch inhaltlich überarbeitet, mit Ergänzungen versehen und sprachlich korrigiert und erscheinen damit gedruckt in lektorierter Form. Freuen Sie sich auf mehr Lesevergnügen!

[1] Vgl. den Artikel «Einblicke: Das unsichtbare Herz Süditaliens».
[2] Ob man sogar die Lyker, ein Volk bzw. wiederum Volksgemisch in Anatolien, für die Erklärung des Namens beziehen möchte? Ich weiss es nicht, Zuwanderungsbewegungen aus dem Osten sind ja in dieser Gegend alles andere als ungewöhnlich.
[3] Eine Zusammenstellung der hier beschriebenen Namensdeutungen: https://it.wikipedia.org/wiki/Basilicata#Toponimi_Lucania_e_Basilicata.Lu