Eintöpfe gehören vermutlich zu den ursprünglichsten Formen des Kochens. Alles andere als einseitig, aber geduldig, nährend und nicht zuletzt verbindend. 2017 habe ich in Matera einen besonders vielfältigen Eintopf entdeckt, der es im wörtlichen und übertragenen Sinn in sich hat – und bin dabei wieder bei den Bohnen gelandet[1]: La Crapiata.
Verschiedene Hülsenfrüchte sind nämlich neben Getreide die wesentlichen Bestandteile dieses Eintopfs, den es bereits seit römischer Zeit in den Sassi gegeben haben soll.[2] Irgendwann kamen noch die Kartoffeln dazu und sind heute nicht mehr wegzudenken. Mit Rezepten ist es wie mit den Traditionen: Eine lebendige und damit auch wandelbare Sache.
Darum war meine Freude über die Entdeckung gross, denn bei der Crapiet, wie man im Dialekt hier sagt, handelt es sich nicht nur um ein jahrhundertealtes und sehr schmackhaftes Gericht, sondern auch um einen Brauch. Stand früher damit ein Erntedankfest im Vordergrund, ist es heute sogar fast noch mehr als das: Die Crapiata ist zu einem Symbol für die Erinnerung an die ländliche Lebensweise und die Liebe der Bevölkerung zu ihrem Land geworden und wird, wie es sich an vielen Orten in Italien für bestimmte Spezialitäten und Produkte gehört, eigens in einer Sagra gefeiert.
Eine Sagra der Dankbarkeit
Das Wort sagra bezeichnet eigentlich ein Kirchweih – oder Heiligenfest. Heute ist damit aber auch allgemein ein Volksfest gemeint. Viel gegessen wird an beiden Festen, ob Heilige, Heiliger oder Würste, Bohnen, Pizza, Brot und andere Stars der regionalen Küche und Landwirtschaft. Es geht um Identität, Lebensfreude, Wertschätzung, mancherorts heute auch um etwas Wirtschaftsförderung und Marketing. Es werden also keine Speisen und Produkte im eigentlichen Sinn geheiligt – und doch ist im Fall der Crapiata noch ein weiterer Aspekt, ein Urgefühl, das dem Heiligen doch ganz nahe kommt, von zentraler Bedeutung: der Dank.
Die Crapiata ist eines jener Feste, das aus dem Volk, aus dem Zusammenleben in nachbarschaftlicher Verbundenheit, entstanden ist. Nach dem Dreschen fanden sich die Menschen in verschiedenen Quartieren in den Sassi zusammen. Die Ernte soll gefeiert und ein erstes Mal gekostet werden: Jemand heizt den grossen Topf an und jeder bringt etwas mit, was zusammen dann die ganz spezifische Crapiata dieser Leute ausmacht. Es wird getanzt, gesungen und getrunken.
Im Reigen von Dankesfesten
Am 1. August wird dieses Fest heute nicht mehr in den Sassi, sondern im Stadtteil La Martella gefeiert. Man ist sich also seiner Wurzeln bewusst, denn La Martella ist ein ab den 1950er-Jahren errichteter Vorort, wo einst viele ihrer Felder waren und wohin viele Menschen umgesiedelt worden sind, als der Staat vom Leben in den Höhlenwohnungen nichts mehr wissen wollte. Ein Verein hält die Erinnerung an die Tradition(en) in La Martella wach und organisiert unter anderem diese Sagra.
Umso schöner also, wenn man in dieser Region – auch wenn etwas «modernisiert» – noch so etwas Ursprüngliches, das ohne kirchliche oder andere institutionelle Verordnung aus sich oder aus sehr antiken Spuren erwachsen ist, erfahren kann. Bei solchen Festen geht es für einmal nur um diejenigen, die für die Erträge und Gaben, welche die Natur nicht schon von sich aus gibt, hart arbeiten.
Man muss aber sagen, dass Erntedank und andere Feste der Ergiebigkeit einerseits wohl so alt wie die Menschheit selbst sind. Wer weiss also andererseits so genau, was bei diesem Eintopf dahintersteckt: Spuren alter Verhaltensweisen, die aus der Dankbarkeit gegenüber Mutter Erde oder einer Fruchtbarkeitsgöttin, die den Menschen wohlgesonnen war, erwachsen sind – wer weiss, vielleicht sogar schon in Zeiten, als die ältesten Völker Süditaliens vor der Ankunft der Seevölker und Griechen noch matriarchale Strukturen aufgewiesen haben.
Zurück zum Fest: Wunderbare Düfte, viel Volkstümliches. Darum: Wer sozusagen das volle Programm erfahren möchte, nimmt gleich an mindestens drei Festen teil, an denen es sich das Volk seit Generationen nach getaner Arbeit gut gehen lässt, um eine Ahnung davon zu erhalten:
So wird am Tag vor der Crapiata in Matera eine kleine, aber ebenso typische Brotspezialität gefeiert: La fedda rossa, was wohl so viel wie die «Rote Scheibe» bedeutet. Dabei handelt es sich um auf Feuer getoastetes Brot, auf dem Tomaten ausgerieben werden, ein Schuss Olivenöl und Gewürze. Wer’s mag und verträgt: Traditionell gehört da Knoblauch drauf. Diese Tomatenbrote schmecken herrlich und sind nicht nur ein typisches Beispiel der an Erfindungen reichen «Arme-Leute-Küche», sondern schmecken in ihren verschiedenen Varianten, getoastet, nicht getoastet, vorher gewässert oder nicht gewässert, mit ganzen oder nur zerriebenen Tomaten, einfach nur schon deshalb herrlich, weil nicht selten damit hausspezifische Traditionen und Erinnerungen verbunden sind. Alles immer überall etwas anders.
Nach dem Fest der Fedda rossa und der Crapiata folgt dann der dritte Akt, der auch die Hirtentradition miteinbezieht: Eine Woche später wird in Berg- und Hügelregionen verbreitet in der Basilicata wiederum ein Topf aufgestellt und eine Suppe mit Ziegen- oder Schaffleisch sowie allerlei Zutaten gekocht und gemeinschaftlich verspeist.
Ein Topf, der es in sich hat
Die Crapiata hat es in sich – und damit meine ich nicht einmal die Folgen nach dem Festessen am 1. August, just an jenem Tag, an welchem die Schweizerinnen und Schweizer im Rahmen ihres Nationalfeiertags Raketen steigen lassen und Böllerschüsse abfeuern. Dass solche Kost in der Regel nicht ganz ohne Folgen bleibt, ist zu erahnen und wird in den engen Lebens- und Wohnverhältnissen auch zu der einen oder anderen Erheiterung beigetragen haben. Sofern man solchem und anderem allzu Menschlichen überhaupt Beachtung geschenkt hat. Dennoch ist der Eintopf über alle Massen sehr gesund und da darf man schon fragen, was denn da rein muss. Man soll ja nicht alles in einen Topf werfen. Aber wenn, dann richtig.
Vorweg: So etwas wie ein Ur-Rezept habe ich nicht gefunden, wohl aber leichte Variationen, was zum Wesen solcher alter Traditionen gehört.[3] Nach Mengenangaben muss man schon gar nicht fragen; man weiss ja wie‘s geht. Und mit dem ursprünglich damit verbundenen Brauch geht einher, dass man nimmt, was die Natur hergegeben und die Leute zusammengetragen haben. Unter den Hülsenfrüchten lassen sich aufzählen: Neben getrockneten Saubohnen (fave), weissen (fagioli) und anderen Bohnen wie etwa den Borlotti, kommen die bekannten alten Stars mediterraner Küche wie weisse und schwarze Kichererbsen (ceci) und die bei uns kaum (mehr) bekannten Platterbsen (cicerchie) zur Vermählung. Dazu jubeln Linsen in allen Farben und Grössen. Unter den Getreiden kommen allen voran Weizenkörner zum Zug, heute kann sich auch noch Gerste, allenfalls Hafer, dazugesellen. Selbstredend müssen all die genannten Acker- und Gartenfrüchte am Vorabend eingelegt werden. Die Gesellschaft im heissen Wasser (mit einem Schuss Olivenöl) begrüsst schliesslich noch Kartoffeln; wie gesagt, sicher nicht eine Tradition seit römischer Zeit, aber die Vorschrift will, dass es jeweils junge, neue Kartoffeln sind – wenn schon denn schon.
Damit wäre die Crapiata eigentlich schon komplett. Als einziges Gewürz war einst nur Salz erlaubt. Das kann man heute halten, wie man will und allenfalls noch etwas Lorbeer beifügen. Ebenso kann man den Eintopf noch mit Tomaten, Sellerie und Zwiebeln verfeinern. Serviert wird schliesslich die ganze Freude mit getoastetem Brot – natürlich Pane di Matera, besonders schön in den typischen Terrakotta-Gefässen, den Pignata. – Eine schmackhafte Tradition.
An dieser Stelle mag die Frage auftauchen, warum ich das Gericht als Eintopf beschrieben habe. Manchmal wird man sich erst im Schreiben über Fremdes bewusst, was man täglich sozusagen vor der Nase hat. Ich habe mich bis anhin nie gefragt, worin eigentlich der Unterschied zwischen den Begriffen Suppe und Eintopf besteht. Die Grenzen sind aber offenbar fliessend. Der Unterschied hängt vielleicht davon ab, wie viel feste Bestandteile in der Flüssigkeit schwimmen. In Italien können beide Gerichte für sich als Mahlzeit (piatto unico) stehen. Sie sind nährend und enthalten alles, was sonst auf mehrere Gänge verteilt wird (Kohlenhydrate, Eiweisse etc.). Die einen bezeichnen die Crapiata als Zuppa, was durchaus entsprechend übersetzbar ist. Weil das Gericht so nährend, nicht allzu flüssig serviert wird und die Vorstellung des grossen Topfs mit partizipativem Menu so einleuchtend ist, bleibe ich aber dennoch beim Eintopf. Alle für einen.
Ingredienzien der Nachbarschaft
Tradition wächst aus dem steten Anfachen des Feuers, wie man anhand eines solchen Gerichts ganz praktisch sieht. Änderte sich in Nuancen auch die Zusammensetzung des Eintopfs und variierte von Quartier zu Quartier, von Familie zu Familie, so bleibt im Kern doch eine Zutat von Bedeutung: die Dankbarkeit. Die Crapiata ist ein Topf, der verbindet: Verbundenheit der Menschen zur Natur, zu ihrem Land, die Verbundenheit der Menschen untereinander, die hier in Nachbarschaft – eher schicksalshaft und notgedrungen als wahlverwandtschaftlich – ihre Lebenskreise miteinander teilten und zusammenarbeiteten.
Wie oft habe ich mir vorgestellt, wie die Menschen hier über Jahrhunderte im engen Gewirr von Behausungen und Gassen eine besondere Form der Nachbarschaft lebten. Neben wohl ebenso viel Problematischem – dem Zusammenleben allgemein, Schwierigkeiten in und zwischen Sippen im Besonderen war nur schwer auszuweichen und Privatleben ist (noch vielerorts) ein Privileg – erwuchs sicher auch viel Schönes, von dem besonders wir in nördlicheren Gefilden heute nur noch eine Ahnung haben. Ich erinnere mich daran, wie unser Dorf Pomarico im historischen Kern bevölkerter war als heute und sich das Leben – Gespräche, Spiele, Rufe, Düfte, Geräusche – nicht nur in den Häusern, sondern viel stärker als heute auch in den Räumen dazwischen abgespielt hatte.
Man sieht, Hülsenfrüchte haben es in sich und sind in jeder Hinsicht gehaltvoll, wenn man genauer hinsieht, besonders dann, wenn man sich spätestens dank ihnen wieder einmal einer Dankbarkeit erinnert, die mehr als nur eine Worthülse ist.
Hinweis – 14.1.2019: Der vorliegende Text wurde im Rahmen des Blogprojekts «Terra di Matera: Basilicata – Reisen, Gedanken und Erinnerungen» geschrieben und gilt nunmehr als nicht mehr weiter bearbeiteter oder korrigierter Entwurf für das Buch «Matera, die Basilicata und ich: Ein persönlicher und literarischer Reisebegleiter auf der Suche nach dem mystischen Herzen Süditaliens».
Alle mit diesem Hinweis gekennzeichneten Kapitel wurden für das Buch inhaltlich überarbeitet, mit Ergänzungen versehen und sprachlich korrigiert und erscheinen damit gedruckt in lektorierter Form. Freuen Sie sich auf mehr Lesevergnügen!
[1] Vergleiche «Leonardo und die Bohnen».
[2] Gemäss Wikipedia-Artikel über die Crapiata (https://it.m.wikipedia.org/wiki/Crapiata) – eingesehen am 21.7.2017.
[3] Rezepte finden sich im Internet und wer schon vor Ort ist: Man kann auch fertig konfektionierte Mischungen (getrocknete Hülsenfrüchte und Getreide) in lokalen Supermärkten kaufen.
Wieder ein schöner Homerun – vielen Dank, man fühlt sich saturiert schon bei blossem Lesen.
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Vielen Dank. Dankbare Leser/innen wie Du machen Freude und motivieren. Homerun – was für eine sportliche Metapher 🙂
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