Zufrieden komme ich aus der Gelateria und freue mich auf den ersten Kuss des Zitronen-Eises, das mir der freundliche Barista in den Becher geschaufelt hat. Kindheitserinnerungen – wenn ich hier bin, muss das sein. Zuerst die klassischen Sorten, später bleibt vielleicht noch Zeit und Lust für Geschmacksexperimente. Unterdessen hat auch Christus seine Besorgungen gemacht und kommt mir aus dem Tabakgeschäft entgegen, zwei Postkarten in der Hand. «Ah, Du verschickst Postkartengrüsse», bemerke ich mit einem zufriedenen Unterton; für mich das Zeichen, dass ihm die Reise in der Gegend gefällt und Eboli so langsam vergessen ist. Wer Postkarten schreibt, ist angekommen. «Ja, tut man das heute nicht mehr?» – «Doch, doch», erwidere ich. «Postkarten werden noch immer gerne geschrieben – Handy, Social Media hin oder her. Auch wir haben immer wieder Karten verschickt, wenn wir im Dorf meines Vaters in den Ferien weilten.» – «Tust Du das heute nicht mehr?», fragt mich Christus. «Ach, ich habe unterdessen wohl einfach zu viel zu erzählen», entfährt es mir mit einem Schmunzeln. «Dafür reicht der Platz einfach nicht aus. Aber apropos Postkarte: Mir kommt eine Geschichte in den Sinn, die ich dir gerne erzählen möchte.» – «Ja, bitte, dann nehme ich doch auch noch ein Eis.»
«Es ist für einmal eine Geschichte, die sich in der Schweiz abgespielt hat und zunächst die mütterliche Seite meiner Familie betrifft. Es ist die Geschichte einer Postkarte, die berührt und indirekt auch an die Basilicata und die Geschichte ihrer Menschen erinnert: Die Episode spricht das Thema Auswanderung an und die damit verbundenen Gefühle und Einstellungen zu dem, was man Heimat nennt, sowie die Wahrnehmung von Wandel. Die Geschichte erinnert mich daran, dass ich mich immer wieder danach erkundigt habe, was «Heimweh» auf Italienisch heisst. Ich bin auf «nostalgia» verwiesen worden. Mir ist aber bewusst, dass auch im Italienischen die Nostalgie mehr als nur das bezeichnet. Die Nostalgie – ein merkwürdiges Gefühl und ein Wort, das wie das Heimweh selbst Schweizer Wurzeln hat.»
Ein nostalgischer Gruss aus der Vergangenheit
2014 habe ich auf einer Versteigerungsplattform im Internet eine Entdeckung gemacht, die mich nicht nur wissenschaftlich inspiriert, sondern primär persönlich sehr bewegt hat: Eine Ansichtskarte – oder Postkarte, wie wir Schweizer sagen – aus dem Thurgau, die bei irgendeinem Händler gelandet ist. Zunächst ein gewöhnliches Landschaftssujet, Massenware, doch bei genauem Hinschauen stockte mir der Atem, als ich nach dem Text die Unterschriften erblickte: Die Karte hatte mein Grossvater mitunterzeichnet!
«Aus der alten Heimat, wo sich Verschiedenes geändert hat und es einem so komisch wird, wenn man an alles zurückdenkt. Empfanget recht liebe Grüsse…». – Mehr stand da nicht. Aber mit diesen Worten eines fast zeitlosen Seufzers über den Wandel der Zeit tritt am 3. Oktober 1966 die Karte eine Reise an, die genau 50 Jahre dauernd wird. Eine Reise, die es in sich hat.
Ob der Angeschriebene seine Heimat gerne verlassen hat oder nicht, ob das «Komische» hier nun melancholisch oder nicht doch eher nostalgisch zu verstehen ist und woran die Beteiligten zurückdenken, ist offen. Es geht aber um Heimat, Veränderung und eben Erinnerung. Migration gab es auch auf mütterlicher Seite meiner Vorfahren. Wenn auch «nur» innerschweizerisch, so gilt auch hier: «Niemand war schon immer da.»[1] Und damit sind nun einmal Erinnerungen verbunden.
Erinnerungen als Bilder im Kopf und Bilder auf der Ansichtskarte; kein anderes Medium als dieses eignete sich über Jahrzehnte besser für diese Kombination. Und mehr als das: Solche Objekte wurden seit je her gesammelt. Nur darum konnte ich die Karte Jahre später in Händen halten. Ansichtskarten sind nicht nur Träger von Text und Bild, sie sagen selbst als Objekt mehr als 1000 Worte und ihre Bedeutung verändert sich im Laufe ihrer Lebenszeit für jeden, der sie später in Händen hält. So auch für mich.
Was für eine Reise, abgeschickt ein Jahr bevor mein Vater in die Schweiz kommt, kurz darauf seine Tochter kennenlernt und eine Geschichte beginnt, die meinen Grossvater erst recht herausfordern wird, und eine Geschichte, die ihrerseits viel von Wandel berichten kann.
Ewig grüsst die Nostalgie
Immer wieder habe ich diese Karte in die Finger genommen. Sie hat mich nostalgisch gemacht. Nicht nur als Objekt, auch ihre Geschichte berührt. Ist man in oder ab der Lebensmitte anfälliger für Nostalgie? Vielleicht. Spätestens dann, wenn man seine Kindheit auf dem Flohmarkt wiederfindet oder einem Objekte wie diese Karte in die Hände fallen.
Die Karte selbst sollte aber nicht lange bei uns weilen. Zuerst habe ich die Karte studiert, in mein wissenschaftliches Arbeiten integriert und schliesslich meiner Mutter geschenkt.[2] Damit lebte für einen kurzen Moment ein Stück unserer Familiengeschichte wieder auf, ein Objekt, das Erinnerungen weckte und wach hielt. Und dann, exakt 50 Jahre nach Versand, brennt mein Elternhaus 2016 nieder und mit ihr verschwindet der Gruss wieder dahin, wohin er gekommen ist. Wenn einem da nicht «komisch» wird, «wenn man an alles zurückdenkt» …
Nichts ist so beständig wie der Wandel. Eine alte Erkenntnis und doch ist man vor Nostalgie nie gefeit. Das wussten schon die Eidgenossen, die – auch in Süditalien – einst Gastarbeiter der besonderen Art waren: Söldner in fremden Kriegsdiensten. Die nostalgia war ursprünglich eine «Schweizer Krankheit», bezeichnet der griechische Begriff, von Schweizer Ärzten im 17. Jahrhundert geprägt, doch ein Krankheitsbild von Söldnern, die es in der Ferne nicht lange ausgehalten haben: das Heimweh! Und was hat diese «Krankheit» ausgelöst? Zum Beispiel sogenannte Kuhreihen – Lieder also, die an die ländliche Heimat erinnerten. Mit Kuhreihen trieb man damals die Kühe voran oder beruhigte sie. Verständlich, die Söldner entstammten einer ländlichen Gesellschaft mit ihren vertrauten Klängen. Die Franzosen verboten bei Strafe, dass die Eidgenossen in ihren Diensten diese Lieder sangen. Sie lösten die Krankheit wohl geradezu aus und veranlassten die Söldner zum Desertieren. Die Nostalgie ist also zunächst «Heimweh», das es als Wort so auch nur auf Deutsch gibt und eine Krankheit! Unsere prominenteste Emigrantin, das Heidi, hat es erfahren.
Tempora mutantur…
Die Zeiten ändern sich und wir uns in Ihnen. Heute hat sich die Bedeutung des Wortes geweitet und wir sehen die Nostalgie als ein Gefühl an, aber als eines, das uns zutiefst ergreifen kann. Sie schleicht sich heran, wenn man sie am wenigsten erwartet und manchmal fordert man sie aber auch regelrecht heraus. Dann ist es, als wollte man auf dem Dachboden der eigenen Erinnerungen wühlen, verweilen und sich dorthin versetzen, wo man heute nicht mehr ist.[3] Es ist wie ein innerlicher Rückzug vom Hier und Jetzt. Wir sind zutiefst historische Wesen, an denen Zeit, Menschen und Orte nicht spurlos vorbeigehen. Mit dem Drang zur Nostalgie meine ich nicht allgemeine Vintage- oder Retro-Trends, denn das ist ein verklärtes und in der Regel angeeignetes Bild fremder Vergangenheiten. Es geht um dieses fast existenzielle und irgendwie auch spirituelle Gefühl, das uns mit uns und anderen über die Vergangenheit verbindet. Nostalgie ist die Rast im Inneren, die uns in der Gegenwart innehalten lässt und sich in der Vergangenheit nährt.
Im Falle der ausgewanderten Menschen ist Nostalgie wohl nicht nur die Erinnerung an das, was nicht mehr ist, die Erinnerung an den Ort, wo man nicht mehr ist, sondern auch eine traurige Ahnung: das Bedauern über ein nicht gelebtes Leben. Darum versuchten sie sich doch grösstenteils ihre Herkunftsidentität – wie eine Postkarte – zu bewahren, viele von ihnen wollten eigentlich irgendwann wieder zurück. Und das Gastland wie die Schweiz gab ihnen auch immer wieder zu verstehen, dass sie das auch sollten …
Wir haben meinen Grosseltern und anderen Bekannten und Verwandten brav jedes Jahr eine Postkarte aus Italien geschickt, wenn wir in der Heimat meines Vaters die nahezu ritualisierten Heimkehrer-Ferien verbracht haben. Wir waren in den Ferien, mein Vater zu Hause. Freude und Nostalgie seine Begleiter: Die obligatorischen Besuche, das Aufsuchen aller wichtigen Orte seiner Jugend – seien es Brunnen, Häuser, Geschichten und Aussichtspunkte. Für kurze Zeit wieder da, wo er nicht mehr ist. Menschen, die sich im Sommer treffen, und ihre Verbindung ist ihre kurze gemeinsame Vergangenheit. Veränderung findet statt, aber für den Aussenstehenden anders als für den, der dort lebt.
Nostalgie und Postkarten im Kopf
Und was schrieben wir derweil auf unsere Postkarten: Da stand kaum mehr drauf als ein kurzes Schwärmen über das Essen, die Sonne, die netten Menschen, das Meer, das damals noch kaum für jeden erreichbar war. Verlegenheit entstand allenfalls daraus, dass es in Pomarico in jener Zeit kaum mehr als zwei verschiedene Karten mit Dorfansichten gab. Mein Vater beobachtete das Tun damals mit Kopfschütteln, liess uns aber gewähren.[4] Seine eigene Postkarte schrieb – malte – er im Kopf und adressierte sie an sein Ich, das in der Schweiz ein anderes Leben führt. Er hat seine Orte und Menschen aufgesucht, Essen, Gerüche, Töne machen die Postkarte im Kopf zu einem multimedialen Ereignis auf dem Dachstock der Erinnerungen.
Nostalgie ist ein kurzes Gefühl, sie zeigt aber, was wir sind: vergänglich. Den Menschen in Vaters Heimat war Geschichte lange kaum bewusst, denn sie leben seit Jahrhunderten mitten in ihr. Den Menschen hier aber ist die Vergänglichkeit in jeder Hinsicht viel stärker bewusst, denn sie leben seit Jahrhunderten mit ihr.
Das Reisen über die Kontraste hinweg, das Heimkehren, führt einem auch solche Dinge vor Augen. In unserem Leben nördlich der Alpen sind wir uns zwar der Vergänglichkeit der Dinge wohl bewusst, sonst hätten wir nicht so viele Versicherungen. Dem Gedanken über die eigene Vergänglichkeit weichen wir lieber aus, gestorben wird heimlich, unser Streben nach Nutzen, Besitz und Selbstverwirklichung scheint auf Unendlichkeit zu zielen. Das Zeitliche kreuzt zumindest oder spätestens an den biografischen Meilensteinen des Lebens unsere Wege: Menschen werden geboren, sterben, heiraten und zwischendurch stolpern wir über die Nostalgie. – Ein Hausbrand zumindest führt einem unmissverständlich vor Augen, was es heisst, loszulassen – angefangen bei Gegenständen.
Nichts ist so beständig wie der Wandel – etwas von dieser griechischen Weisheit (Heraklit) kommt einem auch auf diesem Boden in den Sinn. Da darf man schon zwischendurch etwas nostalgisch sein.
«Liebe Grüsse, …»
Hinweis – 14.1.2019: Der vorliegende Text wurde im Rahmen des Blogprojekts «Terra di Matera: Basilicata – Reisen, Gedanken und Erinnerungen» geschrieben und gilt nunmehr als nicht mehr weiter bearbeiteter oder korrigierter Entwurf für das Buch «Matera, die Basilicata und ich: Ein persönlicher und literarischer Reisebegleiter auf der Suche nach dem mystischen Herzen Süditaliens».
Alle mit diesem Hinweis gekennzeichneten Kapitel wurden für das Buch inhaltlich überarbeitet, mit Ergänzungen versehen und sprachlich korrigiert und erscheinen damit gedruckt in lektorierter Form. Freuen Sie sich auf mehr Lesevergnügen!
[1] Vgl. dazu den Beitrag: https://terramatera.wordpress.com/2017/07/05/wandernde-steine/
[2] Die Geschichte dieser Karte eingearbeitet in: Mente, Michael: Ansichtskarten sind Ansichtssache. Über den Wert topografischer Ansichtskarten in Archivbeständen und Einsichten in Fragen ihrer archivischen Erschliessung. Chur 2016 (Churer Schriften zur Informationswissenschaft, Nr. 81). Online: http://www.htwchur.ch/uploads/media/CSI_81_Mente.pdf
[3] Ein wunderbarer Feuilleton-Artikel von Alain Claude Sulzer über die Nostalgie als Fundbüro der Verluste: NZZ vom 8.12.2016, online: https://www.nzz.ch/feuilleton/ueber-nostalgie-das-fundbuero-der-verluste-ld.132834.
[4] Meines Wissens hat mein Vater nie Postkarten aus der Schweiz geschrieben, im Übrigen auch nicht aus der Schweiz in die Heimat – Schriftliches war in dieser Richtung eher wichtigen Angelegenheiten, in Form von Briefen und Telegrammen, selten auch Grüssen zu hohen christlichen Feiertagen vorbehalten. Selbstverständlich kann ich nicht für andere Familien reden.