Mütter, Töne und Tomaten

«Ninuccio!» – Antonio unterbrach sein Violinspiel und wandte sich zu seiner Zuhörerin um. «Ja, Mutter?» – «Komm mal her.» Der Junge legte Instrument und Bogen auf den Tisch und eilte zu ihr. Sie sass in ihrem Lieblingssessel neben dem Kamin, Venedigs Abendsonne schien durch das Fenster und streichelte ihre Wangen. Sie lauschte dem Spiel ihres Sohnes und war mit einer Stickerei beschäftigt. Offenbar war sie dabei eingenickt und kurz darauf von einem Ankömmling, einem Händler, geweckt worden. Antonio stand erwartungsvoll da, wippte auf den Fersen und bemerkte die Freude, die das Gesicht seiner Mutter ob des Besuchs erhellte. Der Händler unterhielt sich mit ihr in einer Sprache, die ihm merkwürdig vertraut vorkam, bis er bemerkte, dass sie dem Dialekt ähnlich war, den seine Mutter gelegentlich verwendete. Sie trug ihm in dieser Sprache jeweils Reime, Weisheiten und Lieder vor, murmelte merkwürdige, im Klang tröstende Sätze, wenn er krank war, oder führte in der Küche Selbstgespräche. Es war die Sprache von Antonios Grossvater Camillo, der zwei Jahre vor seiner Geburt verstorben war. Seine Mutter Camilla hat Pomarico, dieses kleine Dorf ihres Vaters auf einem Hügel in der Nähe von Matera, im fernen Königreich Neapel, nie gesehen. Sie ist in Venedig geboren. Ihr Vater jedoch hat ihr viel davon erzählt, von seinen Menschen, Traditionen, aber auch vom Schmerz – vom Schmerz, die Heimat verlassen zu müssen, vom Schmerz seiner Mutter ob ihres verlorenen Sohnes. Er wollte Schneider werden, schaute vielleicht dem Schneider im Dorf über die Schultern, der mehr schlecht als recht von seinem Handwerk lebte. Zwar gab es die eine oder andere noble Familie vor Ort, die ihn mit Aufträgen bedachte, doch hätte es niemals ausgereicht, damit eine weitere Familie zu ernähren. Gelernt hat Camillo den Beruf unterwegs, in Fasano, denn der junge Camillo Calicchio, sah sich genötigt, mit seiner Kunst, seinen Talenten und Träumen loszuziehen, um im Norden, im reichen Venedig, sein Glück zu suchen und sich auf seine eigene Art, in neuer Umgebung, einen Namen zu schaffen und eine veritable Existenz zu errichten.

Es gibt Menschen, die meinen, diese Sprache sei Griechisch, so fern klang die Sprache des Südens für die Ohren der Menschen der Lagunenstadt. Camilla griff in das Körbchen, das sie vom Händler erhalten hatte, und holte eine kleine, kugelige, pralle, rote Frucht hervor, hielt sie bedächtig in ihrer Hand, drehte sie mit den Fingern und hielt sie schliesslich in die Höhe. War da nicht auch noch eine Träne in ihren Augen? Sie wandte sich wieder Antonio zu: «Weisst du, was das ist?» – «Nein, Mutter», antwortete der junge Musiker, seinen Kopf neugierig in die Höhe reckend, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, die Beine gekreuzt.

«Das ist eine pmmdor, ein ganz besonderes Geschenk unseres Herrn an unser Land. Nimm eine, iss!» Fast etwas ehrfürchtig nahm Antonio mit zwei Fingerspitzen die Tomate aus Mutters Hand entgegen, betrachtete sie, die Reflexionen auf der makellosen hellroten Haut. Camilla hat immer gut für ihn gesorgt, er war ein kränkliches Kind. «Sie wird dir gut tun.» Ein letzter prüfender Blick in Mutters Augen, und auf ihr ermunterndes Nicken hin biss Antonio in das rote Fleisch. Ein unbeschreibliches Gefühl breitete sich auf seiner Zunge aus, während aus seinen Mundwinkeln das frische Wasser triefte. Während er nach dem zweiten Bissen haschte, begann ihm Camilla wieder einmal eine Geschichte ihres Vaters zu erzählen, von Zeiten, als Hunger und die Pest das Land im tiefen Süden plagten. Reichtum und Armut, «bessere» Menschen, noble Herren und Grossgrundbesitzer, in der Erde kriechende Bauern, sie alle lebten auf engstem Raum in dem Dorf, das sich um eine Hügelkuppe klammerte, zurückgezogen, aus einem Gewirr von Gassen, übereinander gestapelten Steinhäuschen und Felshöhlen. Tomaten wurden damals noch kaum gegessen. Die Noblen, die etwas auf sich hielten, den König von Neapel hofierten, hielten sich die Pflanze als Zier in ihren Gärten. Doch in der Not isst der Teufel – oh, denke ja nicht an ihn, das bringt Unglück – bekanntlich Fliegen. Nonna, Camillos Mutter war eine Frau von Ehre, Demut und Anstand, doch liess sie ihr Gewissen vom Hunger und der Sorge um ihre Kinder besiegen und stahl einzelne Früchte aus ebendiesen Gärten und entdeckte wie andere in ähnlicher Lage, wie gut sie schmeckte. Immer wieder bereitete sie den Kindern Schnitten alten Brotes, rieb die göttlichen Früchte darauf aus, legte ein paar Stücke darauf, gab etwas Olivenöl und Oregano dazu und würzte die «pane e pomodore» mit mütterlicher Liebe. Die Zunge scheint das sensibelste Organ des Menschen zu sein, wenn es um die Erinnerung an die Heimat, an Momente der Glückseligkeit geht.

Während Antonio ass, fühlte Camilla den Schmerz der Mutter ihres Vaters – «stabat mater», da stand die Mutter und winkte tränenerfüllt dem jungen Mann nach, der mit geschnürtem Bündel dem Horizont entgegen schritt und schliesslich nach der letzten Kurve aus ihrem Blick entschwunden war. Antonio sollte es einmal besser haben, nie soll er sie verlassen müssen. Nach einer Nottaufe nach Antonios Geburt hatte sie in Dankbarkeit versprochen, dass er Priester werden soll. Ihr Vater hat zwar darüber kurz den Kopf geschüttelt, dann aber gemeint, man solle Frauen nicht wiedersprechen, wenn es um geistliche Dinge ging. In seiner Heimat traut man den Frauen allerlei Künste in Dingen zwischen Himmel und Erden zu, von denen er nichts verstand und lieber auch nichts wissen wollte, doch sie wird schon wissen, was sie tut. Antonio hat überlebt und gedeiht ganz prächtig. «Mutter, erzählst Du mir die Geschichte, wie der Heilige Franziskus das Mädchen in deinem Pomarico von den Toten auferweckt hat?» Camilla schmunzelte, «Es waren einst zwei Eheleute, einfachste Bauern, die hatten nur eine Tochter, die sie über alles liebten …»

Mütter sind Heilige

Mütter vollbrachten in der Basilicata schon immer wahre Wunder und werden von den Söhnen in der Regel hoch gehalten.[1] Als der New Yorker Bürgermeister Bill de Blasio am 24. Juli 2014 in Grassano zur Menge sprach, erwähnte er seine Mutter und die 1901 von hier ausgewanderte Nonna gleich in den ersten Sätzen. Viel Applaus und die Verspätung sofort vergessen. Er erzählte von Werten und Traditionen, die ihm durch die Frauen vermittelt worden sind, und schwärmte – wie könnte es anders sein – von ihrer Küche. Er erzählte von Muttis Parmigiana, worauf ich schmunzeln musste, denn bei uns macht sie mein Vater. Düfte und Essen – was erinnert mehr an zu Hause – und damit an die Mutter. Ich habe schöne Erinnerungen an meine Nonna in Pomarico und viel gestaunt, was die kleine und arbeitsame Frau ihr ganzes Leben alles durchgestanden haben muss.

Macht, Wissen, Talent und Durchhaltewillen der Mütter in schwierigen Clanstrukturen und unter schweren Lebensbedingungen, das gehört zur Kultur des Südens – wie auch die nicht wegzudenkende Tomate in der Küche. Wer weiss schon genau, wie die Tomate ihren Siegeszug angetreten hat. Es sollte über 300 Jahre dauern, bis die Frucht – pardon, eigentlich ist es eine Beere – aus Südamerika in Europa von der Zierpflanze, gelegentlich auch als Heil- und nur zögerlich als essbar betrachtete Pflanze zum breit geschätzten Nahrungsmittel avancierte. Im Süden, dank den Spaniern vor allem von Neapel ausgehend, scheint das aber schon früher der Fall gewesen zu sein![2] Vielleicht waren die Mütter einfach etwas mutiger und kochten das, was sie vorfanden, um die hungrigen Mäuler so kreativ und nährend wie nur möglich zu stopfen. Wenn ich daran denke, was meine Grossmutter auf sich nahm, um ihre Kinder versorgen zu können. Heute bequem kultiviert in Büchsen und Gläsern abgefüllte Lampascioni und andere Dinge aus und auf dem Boden, das alles musste sie noch suchen und einzeln auszupfen. Heute hat das Marketing in aller Welt – sogar in Italien – erkannt, welchen Wert die Tradition von Mutters beziehungsweise Grossmutters Küche hat: Manches Etikett verspricht, dass es wie bei Mamma oder von der Nonna gemacht ist. Niemand kennt diese Mutter aller Konserven, aber jeder weiss, zu Hause schmeckt es immer am besten.

Vivaldi und seine Mutter

Vivaldi La Cave
Antonio Lucio Vivaldi – Kupferstich von François Morellon la Cave; 1725

Ob Antonio Lucio Vivaldi (1678–1741) aber Tomaten gegessen hat oder nicht, weiss ich nicht. Was an der erzählten Geschichte stimmt: Der venezianische Komponist hatte tatsächlich Wurzeln in Pomarico.[3] Hätte der ausgewanderte Schneider Grossvater Camillo doch sehen können, was aus Antonio, diesem offenbar schwächelnden rothaarigen Jungen schliesslich geworden ist. War es Camillas Verdienst? Mutterliebe bewirkt oft Wunder.

«Was hast Du heute gegessen?», fragte mich meine Nonna jeweils am Telefon und wollte so wissen, ob es mir gut geht. Sie wollte beruhigt sein – so wie Mütter ihrerseits beruhigen – mit dem Schatz an Wissen und Traditionen, den sie über Generationen selbstverständlich gepflegt haben. Manchmal konnte man diese Beruhigung förmlich riechen: Ich erinnere mich an die wunderbaren, grossen Kamillenzöpfe, die Nonna geflochten und vor dem Haus zum Trocknen aufgehängt hat.

Wer weiss, was den berühmten Barockkomponisten dazu inspiriert haben mag, das Stabat Mater, das Gedicht, das den Schmerz der Mutter Christi an seinem Kreuz stehend beschreibt, so ausdrucksvoll zu vertonen.[4] Ich habe spontan daran gedacht und nach vielen persönlich erlebten tränenreichen Abschieden mich daran erinnert, wie auf lukanischem Boden Mütter, wie meine Nonna, immer wieder mit Schmerz zurück- und stehengeblieben sind und den davonziehenden Söhnen und Töchtern (und Enkeln) nachgeblickt haben. Mich dünkt, es sind und waren immer die Mütter, die vor allem litten – sei es bei den vielen Abschieden – oder wie andere Frauen auch öffentlich und ritualisiert leiden mussten: Bis vor kurzem waren sogenannte Klageweiber um die Toten herum noch gang und gäbe. Der Schmerz der Mutter aber ist nie ritualisiert.

Der Heilige Franziskus und die Mutter

Übrigens: Die Geschichte des vom Tod auferweckten Mädchens in Pomarico gibt es jedenfalls tatsächlich. Ein Stein mit zwei überkreuzten Armen – der Arm Christi und der Arm Franziskus‘ – in der Fassade des mittelalterlichen Hauses, hoch oben in der Altstadt, erinnert an die Wundertat des Heiligen. Es ist eines der Wunder, die der Heilige in der Basilicata schon im 13. Jahrhundert vollbracht haben soll. Die Geschichte spielte sich nach seinem Tod ab: Tag und Nacht wachten die armen Eltern am Bett des todkranken Mädchens, versorgten es und taten alles, damit es wieder gesund werden möge. Doch eines Tages fanden sie es verstorben vor. Eine Welt brach zusammen, vor Erschöpfung übernimmt es auch die Mutter und sie verfällt in einen Schlaf, in welcher ihr der Heilige erschien. «Weine nicht, nun da deine Laterne gänzlich gelöscht, werde ich ihr Licht zurückgeben», spricht Franziskus. Die Mutter schreckt auf, ruft alle zusammen, sie heben das Kind an, Mutter ruft den Namen des Heiligen – und das Mädchen erwachte wieder.

Franziskus-Stein-Pomarico
Der Franziskus-Stein in der Fassade des Hauses «Casa del miracolo di San Francesco» in Pomarico

Was wäre die Welt ohne Mütter und der Süden ohne ihren kulinarischen Star, die Tomate. Auf alle Fälle liebte ich diese Tomatenbrot-Schnitten, die mir auch meine Grossmutter immer zubereitet hat. (Gross-)Mutterliebe geht durch den Magen – und manchmal wachen Tote wieder auf.


 

Nach Legenden soll sich Franziskus zu Lebzeiten persönlich in Matera aufgehalten haben. Zum Wunder in Pomarico: Ob der Heilige nun selbst gewirkt oder «nur» Fürbitte geleistet hat, die Geschichte kann so oder anders gelesen werden. Details hier erzählt: http://www.pomaricointour.com/miracolo-san-francesco.html


Hinweis – 14.1.2019: Der vorliegende Text wurde im Rahmen des Blogprojekts «Terra di Matera: Basilicata – Reisen, Gedanken und Erinnerungen» geschrieben und gilt nunmehr als nicht mehr weiter bearbeiteter oder korrigierter Entwurf für das Buch «Matera, die Basilicata und ich: Ein persönlicher und literarischer Reisebegleiter auf der Suche nach dem mystischen Herzen Süditaliens».
Alle mit diesem Hinweis gekennzeichneten Kapitel wurden für das Buch inhaltlich überarbeitet, mit Ergänzungen versehen und sprachlich korrigiert und erscheinen damit gedruckt in lektorierter Form. Freuen Sie sich auf mehr Lesevergnügen!

[1] Den Zusammenhang mit der Marien-Verehrung könnte man hier erwähnen, interessiert an dieser Stelle aber nicht weiter.

[2] Etwas zur Geschichte der Tomate: https://ipna.unibas.ch/archbot/pdf/2011_Jacomet_GeschichteTomate.pdf

[3] Die Biografie: http://www.pomaricovivaldifestival.com/.

[4] Eine Hörprobe zum Beispiel: https://www.youtube.com/watch?v=zIpbgr9aUEo.

2 Gedanken zu “Mütter, Töne und Tomaten

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