Kein Volk auf dieser Welt spricht so oft und bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten über das Essen wie die Italienerinnen und Italiener. Dieses Reden erfüllt so viele kommunikative Funktionen, dass darüber schon Bücher geschrieben worden sind. Essen ist Bestandteil ihrer Kultur, es muss im Idealfall frisch, genuin, möglichst selbst gemacht, zumindest regional und vor allem gut sein. Auch mich steckt es jedes Mal an, ich nehme gerne an solchen bisweilen sehr leidenschaftlichen Gesprächen, manchmal auch hitzigen und detaillierten Debatten teil und lerne laufend dazu. Hier sind, fast etwas wie beim Fussball, alle Experten. Und wenn einem die Argumente ausgehen, dann wird der Trumpf gespielt, dass die eigene Frau, Mutter, Nonna sowieso die beste ist. Dieser Punkt macht es einem übrigens nicht immer ganz leicht, wenn man nach Rezepten fragen will: Gutes Essen ist Verinnerlichung von Identität, Heimat und letztlich ein erotischer Akt – und das ist schon die Zubereitung, die viel mit Gefühl und Hingabe und weniger mit Masseinheiten und Mengenangaben zu tun hat. Man muss es mit seinen Sinnen lernen, es muss einem in Fleisch und Blut übergehen, gekocht wird «all’occhio» – von Auge – und gespürt wird mit den Händen, nicht mit der Uhr. So ist das gleiche Gericht oft von Region zu Region, von Dorf zu Dorf, ja von Familie zu Familie unterschiedlich. Herrlich, diese Nuancen zu erspüren – oder eben zu diskutieren …
Die Heilige Messe
So muss ich unvermittelt schmunzeln, wenn ich aus der Distanz Italiener und Italienerinnen beobachte, etwa meinen Vater mit einem Freund neben den Tomaten und Bohnen im Garten stehend. Es gibt diese Handbewegungen und Körperhaltungen, die sofort verraten, worum es im gerade stattfindenden Gespräch geht: die Zubereitung eines Gerichts oder das Schwärmen, was auf den Tisch kommt. Wenn mich meine Grossmutter am Telefon fragte, was ich heute gegessen habe, wollte sie keine Details, sondern nur hören, dass es mir gut geht. Ich habe gegessen, und Liebe geht durch den Magen. Besuchten uns die Verwandten aus dem Süden, ging das Auto regelrecht «in die Knie», so vollgepackt war es jeweils und höchst optimiert beladen: Selbst aus dem Reserverad liess sich noch ein Selleriestängel ziehen; Grossmutter balancierte vielleicht die ganze Fahrt geduldig noch eine Melone auf den Knien. Den Zoll versuchte man zu überlisten, indem man sich die Salsiccia-Ketten um den Bauch gewickelt hat. Zwei Wochen wurde dann gekocht, wie es sich gehörte. Dem Sohn in der Ferne sollte es schliesslich wieder einmal gut gehen.
Ach ja: Pünktlichkeit ist im Süden ein umstrittenes Konzept – aber Unpünktlichkeit zur heiligsten aller Messen, dem Mittagessen, wird in traditionellen Familien nicht goutiert. Messe? Oh ja! Zu allem bisher Gesagten: das sogenannt moderne Leben mit seinen Begleiterscheinungen ist natürlich auch im Süden schon längst angekommen. Dennoch ist das Essen zu Hause im Kreis der Familie immer noch zentral und folgt einer strengen Liturgie. – Pasta isst man übrigens zu Hause, Pizza auswärts, Restaurants sind eher für die Fremden und sekundär fürs Zusammensein unter sich und mit Freunden entstanden. Besagte Messe wird besonders am Sonntag ausführlich zelebriert: Antipasti, Primo (etwas mit Kohlenhydraten, meist Pasta), Secondo (etwas Eiweisshaltiges, also meist Fleisch mit Beilage), Salat, Dessert und Früchte. Selbst hergestellte Weine sind hier noch vorhanden, der Kaffee rundet das Mahl schliesslich ab. Eine besonders hohe Messe wird gefeiert, wenn Gäste am Tisch sind.
Als Tourist – und mittlerweile dank der italienischen Diaspora auf der ganzen Welt – erhält man von diesem kulinarischen Reichtum zumindest eine Ahnung, und diese hat es bereits in sich. Wer über die Alpen fährt, freut sich auf entsprechende Genüsse.
Irgendwie wundert es mich nicht, dass jeder, der an das letzte Abendmahl denkt, das Gemälde von Leonardo da Vinci vor Augen hat. Ausgerechnet in Italien findet dieses berühmteste Abendessen der Christenheit statt – und da ist mehr als Brot und Wein vorhanden. Christus wusste ja sicher auch zu geniessen. «Klar», stimmt Christus zu. «Doch, was ist das eigentlich, die italienische Küche? Ich habe auf meiner Wanderung durch diese reiche Halbinsel in jeder Region eine andere Küche angetroffen und frage mich dann natürlich, was ich hier in der Basilicata antreffen werde? Gibt es denn so etwas wie eine italienische Küche – und finde ich sie auch hier?»
«Gute Frage», räume ich ein. Das ist nämlich gar nicht so einfach zu beantworten. Besonders dann, wenn man sich in einer Region wie der Basilicata befindet, wo bei genauem Hinsehen nachvollziehbar ist, wie man über Jahrhunderte in Armut gelernt hat, sich zu arrangieren und dennoch irgendwie zu zaubern. Heute wird hier üppiger gegessen als noch bis in die Jugendzeit meines Vaters. Die ländliche Bevölkerung hat sich geholt, was den Reichen vorbehalten war. Weil die Gegend aber so vergessen und abgelegen war, ist es eine Region, die auch auf dem Tisch sehr viel Ursprüngliches bewahrt hat und jetzt ihrerseits mit dem Touristenstrom mit dem konfrontiert wird, was die Leute erwarten: die italienische Küche. «Ich versuche dir diese mit einem Bild zu erklären; kannst Du dir unter einer Fusion etwas vorstellen?» – «Wie bitte? Erkläre mir das, bitte», Christus setzt sich und hört, nun eine saftig-frische, duftende Focaccia kauend, zu.
Klar, der Vergleich mag gleichermassen zunächst etwas irritieren wie beim Suchen nach Antworten zu unterschiedlichsten, zwiespältigen Resultaten führen: Je nachdem halt; vielleicht je nach Ziel und Absicht einer Fusion. Man denkt beim Begriff vor allem an wirtschaftliche Zusammenschlüsse, sofern es denn solche sind und es nicht so ist, dass einer den anderen schlichtweg schluckt. A propos «Schlucken»: Wer denkt beim Stichwort Fusionen aber an Fusili?
Tradition als Fusionsvorgang
Der «Lieblingsitaliener», der die beste Pizza macht, Erinnerungen, Ferien … Pizza, Pasta, Polenta – bald würden noch andere Gerichte vor dem geistigen Auge erscheinen, die man gemeinhin als «italienisch» taxiert. Das war nicht immer so und ist alles andere als selbstverständlich. Vielmehr ist die Geschichte der italienischen Küche und diejenige ihrer Verbreitung nichts anderes als eine Abfolge gelungener Fusionsvorgänge unter nicht immer ganz einfachen Voraussetzungen – im eigentlichen Herkunftsland und dort, wohin sie ihre Trägerinnen und Trägern gebracht haben. Der Vorgang hält weiter an, denn wie in Kunst und Kultur bedarf es auch in der Küche der Übersetzung, sprich der beständig neuen Interpretation und Kreation. Das Rezept ist nicht alles. Das Rezept aber heisst Tradition, eine Tradition der Fusion, dem Zusammenkommen von Elementen zu und in etwas Neuem.
Und das begann schon vor Urzeiten: Das Mittelmeer war während Jahrtausenden Schnittpunkt verschiedener Welten und die italienische Halbinsel dafür prädestiniert, aufgrund ihrer Lage an ihnen allen in unterschiedlichster Art teilzuhaben. Ideen, Religionen, Menschen, Kulturen, was wanderte hier alles durch – friedlich oder invasiv, handelnd, siedelnd oder erobernd und beherrschend – und hinterliess seine Spuren: nicht in einem Nebeneinander sondern in einem Ineinander und Miteinander, in einer kulturellen Fusion.
Ein Garten voller Exoten
Das gilt auch für die Bestandteile, die Zutaten selbst, etwa die Pflanzen. «Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, im dunkeln Laub die Goldorangen glühn […]?» So fragte Goethes Mignon. Wie die Mandeln und ihre Blüten waren Zitrusfrüchte neben Zeugnissen vergangener Kunst und Kultur wie Ruinen verkörperte Italiensehnsucht. Jedoch: Abgesehen vom knorrigen Ölbaum, vom Wein und alten Getreidesorten stammt wenig wirklich aus der Gegend. Zitronen und Orangen – von Arabern aus dem Fernen Osten hergebracht, die Mandel aus Asien, der Feigenbaum aus Amerika, die Auberginen aus Indien, der Mais aus Mexiko. Und die Tomate? Es ist wohl unbestritten, dass in keinem anderen Land diese peruanische Beere zu derartiger Perfektion gefunden hat, wie wir sie etwa vollendet in einem Sugo verarbeitet kennen, der mindestens einen halben Tag gekocht hat und seinen Geschmack im ganzen Quartier verbreitet. Auf der «Mutter aller Pizzen», der Margherita als «essbarem Wappen» in den Nationalfarben Grün, Weiss, Rot leistet der Tomate das Basilikum unverzichtbare Gesellschaft; auch dieses duftende Kraut soll indischer Herkunft sein. Bohne, Pfirsich, Kartoffel – sie wissen wie noch andere Ingredienzien italienischer Küche von weiter Reise zu berichten. Sie alle kamen auf den Tafeln einer Halbinsel zusammen, wo der Name «Italien» über Jahrhunderte mehr ein geographischer Begriff als die Bezeichnung einer Nation war – und es in gewissem Sinn und in Nuancen immer noch ist.
Ein Begriff über alles
Gekocht wird überall auf dem Stiefel nach vorhandenen Möglichkeiten, sei es zum einen in der bäuerlich-regionalen cucina povera; nicht selten sind sogenannte Arme-Leute-Speisen heute teure Delikatessen. Daneben die gutbürgerliche cucina alto-borghese. – Kochen an sich ist schon Fusion, wo doch die Gesamtheit der Ingredienzien die Speise erst ergibt. Aber wohl an keinem Ort in Europa ist das Zusammenkommen so unterschiedlicher Bestandteile und Köstlichkeiten über viele Jahre unter dem Dach eines Begriffs, ja mittlerweile sogar Codes (heute führen längst nicht mehr nur Italiener italienische Restaurants) so offensichtlich und eindrücklich nachzuzeichnen.
Erfundene Traditionen in seiner besten, vielleicht köstlichsten Form, vielleicht sogar eine fusion cuisine avant la lettre (sogenannte Fusionsküche). Denn: Dass es die italienische Küche an sich nicht gibt, allenfalls eine bei uns adaptierte Vorstellung oder mittlerweile eine nach überstandenen Zeiten des Misstrauens und der Fremdenfeindlichkeit ausserordentlich gut integrierte Form, ist offensichtlich. Jede Region kocht(e) schliesslich ihr eigenes Süppchen und nicht selten bezeichnet(e) derselbe Name andernorts nicht das gleiche Gericht. Für die Focaccia zum Beispiel gibt es wohl ebenso viele verschiedene Ausprägungen wie Regionen, ganz ähnlich dem bei uns verbreiteten Flachkuchen mit Belag.
Seit dem Mittelalter waren es vor allem die Städte, die für ein Bewusstsein um die Esskultur sorgten, regionale Traditionen also auch hier: Spaghetti Napoli sind, wie es der Name sagt, ebenso lokalen Ursprungs wie das Pesto Genovese, das Bistecca Fiorentina, der Risotto Milanese oder der Parmaschinken. Die Bolognese ist übrigens eine ähnliche, im Zuge der Migrationsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg kreierte Erfindung wie später der türkische Kebap: Im Ausland adaptiert, mit einer Prise Idealvorstellung garniert und nach Italien zurückimportiert, kein Bestandteil der regionalen Küche Bolognas.
Esskultur und Identität
Die Essenskultur hat bereits seit dem Mittelalter entscheidend zur italienischen Identität beigetragen, trotzdem der Stiefel lange von zahlreichen Reichen und Republiken geprägt war. Der Esstisch aber ist der Ort, um den sich schliesslich seit dem 19. Jahrhundert eine Nation scharte: Während in Deutschland die Brüder Grimm Volksmärchen sammelten, tat dies ein florentinischer Handelsmann mit Rezepten. Wohl sparte besagter Pellegrino Artusi 1891 einige Regionen, besonders unseren Süden, aus, obschon dort die gleichen Künstlerinnen und Künstler, unter den schweren Lebensbedingungen, mit den vorhandenen und «zugewanderten» Ingredienzien und Zutaten das Ihrige zur täglichen Versorgung taten und über sich hinausweisend zur Traditionsbildung beisteuerten. Artusi befand sich mit diesem Desinteresse lange in bester Gesellschaft. Doch gelang es Artusi, mit dem noch heute aufgelegten Kochbuch La scienza in cucina e l’arte di mangiar bene einen «Ort» nationaler Einigung zu schaffen. Damit war nicht nur die Einheit in der Vielfalt innerhalb einer als Italien bezeichneten Region beschrieben, sondern auch die Kraft für den Vormarsch der italienischen gegen die einstige Vorherrschaft der französischen Küche gegeben.
Und die Basilicata?
Die italienische Küche als Beispiel für eine gelungene Fusion – oder besser: Fusionen. Es lohnt sich, weiter darüber nachzudenken – und sie zu geniessen. Fusionen können also eine durchaus schmackhafte Seite haben. Damit sie aber nachhaltig bleiben, muss man sich bewusst sein, woher die Bestandteile kommen, wie sie in welchem Verhältnis zu mischen und zuzubereiten sind. Kein Element «übertönt» das andere, sondern ergänzt oder verstärkt es und ist Bestandteil eines neuen Ganzen.
Die Basilicata ist für sich schon ein Beispiel für so einen Fusionstopf. All die Völker, die das Territorium erobert, beherrscht oder nur durchwandert haben, Ideen, Religionen und die Kirche hinterliessen ihre Spuren auf den Tellern. Lukaniens grösster Schatz ist wohl die «cucina povera», die bäuerliche Landküche, die alles kunstvoll verwendet, was die wilde und kultivierte Natur hier bietet. Dass dabei viele Gemeinsamkeiten zu den Nachbarregionen, etwa zu Apulien, bestehen, ist nicht weiter verwunderlich. Das Brot von Matera und jenes von Altamura sind sich auffallend ähnlich, orechiette con rape isst man nicht nur in Apulien und die bitteren Wildzwiebeln, die lampascioni (eine essbare Hyazinthenart) grub meine Grossmutter eigenhändig aus, während sie heute am Flughafen von Bari nach dem Rezept nach Art der (apulischen) Nonna angepriesen werden. Die historischen Grenzen sind nicht so alt wie die Ideen dieser Gegenden und eine gewisse Portion Geschäftstüchtigkeit gehört halt auch dazu.
Bewahrung des «Typischen»
Vielleicht stehen wir als Touristen und Rückreisende hier in der Verantwortung, dass wir nicht unsere Vorstellung der einen italienischen Küche in eine Gegend wie die Basilicata zurück-importieren. Wollen wir überall nur noch Pizza, Pasta und anderes essen, also das, was man kennt? Das wäre eine bedauerlich arme Form des Tourismus. Matera bemüht sich sehr, die regionalen Spezialitäten aufrechtzuerhalten und beobachtet den wachsenden Kommerz mit Besorgnis. «Ich empfehle dir sehr, gerade in den Frühlings- und Sommermonaten, so viel wie möglich vom Genuinen, von den Zubereitungen dessen zu probieren, was hier aus dem Boden wächst und auf selbigem kultiviert und gezüchtet wird – ob Zichorien, Stängelkohl, Bohnen oder auch Fleisch wie capocollo, salsicce oder soppressata, Käsesorten wie der provolone podolico oder ein cacia ricotta, cacia cavallo, frag nach den örtlichen Spezialitäten …. ich muss aufhören. Gehen wir essen?»
Umberto Eco hat eben schon recht, indem er gesagt hat, dass man eine Kultur am besten über das Essen kennenlernt. Halten wir darum diesem Erbe Sorge und hören wir den Geschichten zu, die sich um die Bestandteile dieser reichen Tradition erhalten haben.
Hinweis – 14.1.2019: Der vorliegende Text wurde im Rahmen des Blogprojekts «Terra di Matera: Basilicata – Reisen, Gedanken und Erinnerungen» geschrieben und gilt nunmehr als nicht mehr weiter bearbeiteter oder korrigierter Entwurf für das Buch «Matera, die Basilicata und ich: Ein persönlicher und literarischer Reisebegleiter auf der Suche nach dem mystischen Herzen Süditaliens».
Alle mit diesem Hinweis gekennzeichneten Kapitel wurden für das Buch inhaltlich überarbeitet, mit Ergänzungen versehen und sprachlich korrigiert und erscheinen damit gedruckt in lektorierter Form. Freuen Sie sich auf mehr Lesevergnügen!
Ein Film über das Essen in der Basilicat: «Zu Tisch in…»:
Eine solche Familie als Oase der Italienischen Küche, bravi .
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