
Ich treffe Christus am Kiosk an der Piazza Matteoti in Matera. «Siehst Du das rötliche Gebäude geradeaus?» Er nickt. «Das ist der Bahnhof von Matera.» Da mich mein Reisegefährte ungläubig anschaut, zumal keine Gleise sichtbar sind und ich ihm eine Bahnfahrt über die Alta Murgia versprochen habe, hole ich weiter aus: «Für die einen ist La Stazione dieses Gebäude, das einst Bahnhof war. Bei genauerer Betrachtung merkt man sofort, dass es tatsächlich den Charakter eines Bahnhofs aus früheren Zeiten hat und es tut einem fast leid, dass so ein schmuckes Gebäude hier nur wenig zur Geltung kommt. Heute halten dort die Stadtbusse und einige Busse aus den umliegenden Dörfern. Der eigentliche Bahnhof, Matera Centrale, liegt gegenüber und besteht aus einem zugegeben wenig charmanten Betonbau. Warteraum, Schalter und eine etwas laute Lüftung, denn das Leben spielt sich unter Tage ab: Die Gleise verlaufen seit 1986 unterirdisch. Es gibt also eine Eisenbahn in Matera, nur versteckt sie sich hier etwas.

Die erste Begegnung mit einer Littorina
Das heisst, auch schon wieder Geschichte. Bis Sommer 2019 ensteht hier ein architektonisch durchdesignter neuer Bahnhof. Aber uns interessiert der Untergrund:
Dass es eine Schmalspurbahn ist, die man hier unten antrifft, hat nichts mit lukanischer Bescheidenheit zu tun. Vielmehr sind es historische, technische und topografische Entscheide, die dazu geführt haben, im ganzen Süden Bahnen mit geringer Spurweite zu errichten.
Meine erste persönliche Begegnung mit den Ferrovie Appulo Lucane FAL war am 12. September 2016: Meine Freundin und ich standen nach einer ausgelassenen Hochzeitsfeier auf dem Perron – so nennen wir in der Schweiz den Bahnsteig – des einen von zwei Gleisen im Untergrund von Matera Centrale. Es ist noch früh am Morgen und vergleichsweise frisch. Meine Freundin begleitet mich und weiht mich in die Geheimnisse des regionalen Bahnfahrens ein. Man muss wissen, wie man zu Tickets kommt (Öffnungszeiten des Schalters beachten oder online erwerben), daran denken, dass man sie im Sack behält, sonst kommt man nicht durch das Drehkreuz beim Verlassen des Ankunftsbahnhofs. Und sonst das übliche Kreuz hierzulande, worum sich aller Jammer dreht: Dünner und kaum unter den Transportunternehmen abgestimmter Fahrplan und vor allem braucht alles etwas Zeit.
Mit dem Gewicht des nahenden Abschieds und dem Gewicht der mit Erinnerungen und allerlei guten Gaben aus diversen Küchen und Kaufregalen vollgeladenen Koffer komme ich zwar nicht gerade leichtfüssig voran. Aber ich gebe es zu, ich war erwartungsvoll und freudig auf das kleine Abenteuer, das alles etwas wettmachen sollte.
Ein kurzes Hupen, da rollt eine topmoderne Triebwagengarnitur der FAL aus Richtung Matera Sud mit deutlich hörbar brummendem Dieselmotor heran. Gottseidank, der Zug ist pünktlich. Ich zelebriere hier zwar ganz bewusst die Langsamkeit und möchte die Landschaft geniessen; den Flug in Bari Palese verpassen möchte ich dann aber doch nicht (Umsteigen in Bari Centrale von der FAL zur erst 2013 eröffnenten Strecke der Ferrotramviaria). Noch beim Einsteigen muss ich es erwähnen: Das Fahrzeug ist ein Schweizer Fabrikat! (Italienisch ist der doppelt besetzte Führerstand). Was für eine lustige Begegnung ausgerechnet auf diesem Boden – zwischen Thurgauern sozusagen, denn es ist die Firma Stadler, ansässig im Herkunftsdorf meiner Mutter, welche in den Jahren 2012 bis 2015 11 zweiteilige (FAL SB1–11) und sechs dreiteilige (FAL ST1–6) dieselelektrische Triebzüge liefern durfte. Ich hätte nichts dagegen gehabt, auch einen der etwas älteren Triebwagen der Vorgängergesellschaft Ferrovie Calabro Lucane Probe zu fahren.[1] Aber gut.
Littorine nennen die Leute hier umgangssprachlich mit einem unterdessen etwas archaisch wirkenden Begriff die Dieseltriebwagen – unabhängig von Fabrikat und Alter. So ein Triebwagen heisst in der Fachsprache auf Italienisch eigentlich Automotrice, aber der Begriff hat sich merkwürdigerweise hartnäckig seit den 1930er-Jahren für diese Art der leichten Dieselfahrzeuge in ganz Italien halten können.[2]
Diese erste Fahrt mit der FAL über die Alta Murgia, die gerade im Sonnenaufgang erwachte, bleibt unvergessen und eine Reise empfehle ich gerne jedem Basilicata-Reisenden. Gut möglich, dass die Reise künftig etwas schneller gehen wird. 2018 liest man in der Zeitschrift «Eisenbahn-Amateur» (3/114), dass die Strecke mit Zugsicherung ausgerüstet wird und neue Doppelspurabschnitte lassen aufhorchen.
Mente si è fermato a Ferrandina
Somit habe ich auf unserer Fahrt genug Zeit, etwas über die Eisenbahn in der Basilicata, besonders die Linien um Matera, zu erzählen. Meine sonst übliche Anreise erfolgt ja nicht über diese FAL-Schmalspurstrecke via Bari, sondern führt mich seit einigen Jahren nach Napoli und von dort nach Ferrandina. Näher an Zuhause geht nicht (mehr).
«Wo steigst Du aus?» An einem Bahnhof mit vielen Namen: «Ferrandina-Pomarico-Miglionico». Drei Dörfer auf den umliegenden Hügeln teilen sich einen Bahnhof im Tal des Basento, der auch als «Ferrandina Scalo» bezeichnet wird. Das Gebäude (1875) an der Strecke von Battipaglia nach Metaponto, welche von Küste zu Küste Napoli mit Taranto verbindet, stammt aus der Gründungszeit, aus einer Zeit kurz nach der italienischen Einigung, als die «strada ferrata» Fortschritt in die Gegend hätte bringen sollen, und wurde vor einigen Jahren modernisiert. Zwischen den ein- und ausfahrenden Zügen wirkt aber nicht selten alles etwas verlassen. So habe ich es bis anhin angetroffen – immer froh, wenn die Frage des Weitertransports auf den letzten gut 15 Kilometern nach Pomarico (ich erinnere an das Stationsschild) auf privaten Gummireifen geregelt werden konnte.
Materas reale Passion
Mit dem Fahrplanwechsel 2017 aber ist etwas Sonderbares geschehen: Die Station heisst plötzlich «Ferrandina Scalo Matera». Pomarico hat scheinbar offiziell keinen Bahnhof mehr, dafür kommt Matera zu Ehren – eine Hilfe für Touristen offenbar, denn die Einheimischen wissen, dass die Stadt der Sassi noch gut 30 Kilometer entfernt liegt. Die Episode hat darum wohl bei nicht wenigen das Blut aufkochen lassen, denn für sie erscheint das Wechseln des Schildes einem Etikettenschwindel gleichzukommen und hinter der Frage, warum Matera als einzige Provinzhauptstadt Italiens keinen Anschluss an das nationale Schienennetz hat, ist eine alte Leidensgeschichte – sozusagen die Passion Lukaniens. Ich lese immer wieder, dass die Menschen in der Basilicata als geduldig gelten und es gewohnt sind, zuerst viele Steine aus dem Acker zu räumen, bevor sie überhaupt in der harten Erde mit der eigentlichen Arbeit beginnen. Im Falle des Bahnanschlusses von Matera kommt mir aber verbreitet Resignation entgegen. Selbst als ich die Leute im Sommer 2017 auf die Plakate angesprochen habe, die ich am Bahnhof aufgehängt gesehen habe: Information über den Start der Arbeiten für eine Bahnstrecke von Ferrandina Scalo nach Matera La Martella. – Pazienza.
Erfahrungen
Unterdessen haben ja einige mitbekommen, dass ich gerne auch über längere Strecken mit dem Zug fahre. Ob Haupt- oder Nebenbahn, ob Hochgeschwindigkeit oder Bummelbahn: Das Reisen mit der Bahn ermöglicht seit je ganz eigene Erfahrungen, wenn es darum geht, einem Land mit seinen Eigenheiten und seinen Menschen mit ihren Geschichten zu begegnen.
Zugegeben, es kann auch 2018 bisweilen noch eine Herausforderung sein, sich auf diesem Weg zu bewegen, und ich erzähle den Einheimischen jeweils lieber davon, wenn die Reise ohne Probleme geklappt hat. Oder ich stelle es als Abenteuer dar, zugegeben auch mit etwas Stolz vermischt. Schliesslich beginnt fast jedes Gespräch, vor allem vor den Bars, wo mich die Pensionierten schon von weitem auf den Treppen und Mauern sitzend erblickt haben, mit der Frage, wann ich angekommen bin (und wann ich wieder gehe) und sehr schnell: «Wie bist du gekommen?»
«Eppur si muove!» Und sie bewegt sich doch
Aber ich kam mir auch schon fast wie der lebende Beweis dafür vor, dass es die neue Zugsverbindung tatsächlich gibt, dass für einmal Politiker Wort gehalten haben und Anschlüsse klappen können. Ich würde mir trotz meines Namens Michael niemals die Rolle des Heiligen anmassen – auch ich ärgere mich immer wieder mal und habe es bisweilen gerne bequem; aber statt mich zum Märtyrer bei den staunenden Zuhörern erklären zu lassen, welcher der Liebe wegen dieses Kreuz der Reise auf sich nimmt und die Höllenpforte Dantes zu aller Verwunderung immer wieder durchschreitet, sehe ich mich doch lieber als derjenige, der mit positiver Einstellung und gutem Beispiel voranreist. Ich kam sah und bin gefahren! Aus guter Erfahrung wohl: Die allseits anerkannte und mächtige Religion steckt im Markt, und der bestimmt, wann ein Angebot auch wieder verschwinden soll.
Lamento Lucano – Lamento ferrato
Und hier ist viel verschwunden. Wer die Karte der Basilicata studiert, sieht, dass die Gegend tatsächlich nur mager mit Eisenbahnstrecken gesegnet ist, und würde nicht denken, dass das einmal ganz anders war. Unzählige Strecken wurden eingestellt.[3] Schon kurz nach der Einigung Italiens im 19. Jahrhundert setzte auch im Süden viel Aktivität ein, um die Regionen zwischen den Meeren mit einem vergleichsweise dichten Netz der eisernen Wege – den «Strade ferrate» – zu verbinden.
Eisern ist aber nicht nur der Weg, sondern hält sich die Klage. Die Frage nach der Eisenbahn und des öffentlichen Verkehrs allgemein fügt sich leider für viele nahtlos in die jahrhundertealte Geschichte Lukaniens, die sich in der Moderne auf neue Weise und insbesondere als Symptom der Südfrage (questione meridionale) fortsetzt: Man ist hier abgehängt und vergessen. Dass Trenitalia und Italo pro Tag einige Busse, die als Link bezeichnet werden, als Anschluss auf ihre Hochgeschwindigkeitszüge anbieten, ist zwar schön, aber wirkt dennoch wie ein Trostpflaster.
Nachdem die Anreise nun schon um einiges besser geworden ist, bewegt man sich im Landesinnern noch immer sehr mühsam, per Eisenbahn und Bahnersatzbussen auf wenigen Strecken bei vergleichsweise dünnem Angebot. Es ist fast wie eine moderne Interpretation des Lamento Lucano[4], ein ritualisierter Trauergesang über lausige Dienstleistungen an der Bevölkerung, im Falle des Verkehrs über fehlende Infrastruktur, schlechten Service und mangelhaften Unterhalt, mächtige Götter in Form von Politikern mit weiten Hosentaschen, falsche Versprechungen und versandende Projekte. Leider in vielen Fällen nicht zu Unrecht, ob Bahn oder Bus (von einem eigenen Flughafen in der Basilicata, Pisticci, ist man noch eher am Träumen). Darum auch das Abwinken immer dann, wenn ich nach der Strecke Ferrandina-Matera gefragt habe.
Spurensuche
Was hat es mit dieser Strecke auf sich? Ist sie so etwas wie ein Symptom, eine Narbe der Verletzungen im Mezzogiorno? Der Sache, zumindest in groben Zügen, auf den Grund zu gehen, war eine regelrechte Spurensuche. Mich hat immer wieder erstaunt, was für unterschiedliche Antworten mir entgegengebracht worden sind, wenn ich danach gefragt habe, und für mich begann die Spurensuche als vergleichsweise Aussenstehender zunächst mit der ganz banal erscheinenden Frage: Gab es einst eine Strecke zwischen Matera und Ferrandina? Oder handelt es sich um eine Bauruine? – Für beides gab es Hinweise und beides trifft auch tatsächlich zu. Des Rätsels Lösung liegt sozusagen in der Spur selbst: Die einstige, 1972 bis 1974 eingestellte Strecke war eine Schmalspurstrecke mit der in Italien typischen Spurweite von 950 Millimetern, während das 1986 gestartete Bauprojekt beziehungsweise die Ruinen der bisherigen Bemühungen den Anschluss an das nationale, normalspurige Netz mit dem in Europa weit verbreiteten Gleisabstand von 1435 Millimetern vermitteln soll.
Nun konnte ich endlich die Puzzleteile zusammenbringen. Das erste: Mein Vater hatte immer wieder erwähnt, dass er als Kind in Pomarico auf den Zug gewartet hatte. Das Dorf hatte also einen eigenen Bahnhof – mit eigenem Stationsschild! Bis ich die traurigen Reste, etwas abgelegen im Umland, gefunden habe, sollte es aber noch etwas dauern. Von den Gleisen selbst ist nichts mehr zu sehen, der Streckenverlauf ist stellenweise noch erkennbar, wo nicht Landwirtschaft und Strassen das Ihre getan haben. Einige Stations- und Dienstgebäude lassen sich noch finden, sogar noch Brücken, Überführungen; ich bin mir dabei wie ein Archäologe vorgekommen, nicht nur, weil der Weg zu den Fundstellen bisweilen abenteuerlich war, sondern vor allem auch deshalb, weil ich anschliessend etwas zu erzählen hatte, was viele hier bereits zu vergessen haben scheinen. Die Suche nach dem Trassee bietet sich auch als Wanderroute mit eindrücklichen Erlebnissen in der Natur an.[5] Alle umliegenden Dörfer wurden von der strada ferrata in Richtung Hauptbahnstrecke berücksichtigt: Von Matera über die Halteorte Parco dei Monaci, Montescaglioso, Santa Lucia, Tre Confini Sottano, Pomarico, Miglionico ging die Reise nach Ferrandina und sogar noch weiter. La Macchia, Pisticci, Pisticci-Pozzitello, Craco heissen die Orte bis zur Endstation Montalbano Jonico. Bei Ferrandina benutzte die Bahn übrigens ein Stück der staatlichen Hauptstrecke mittels eines Dreischienengleises, wie man mir erzählt hatte! Die anfangs des 20. Jahrhunderts noch geplante Verlängerung bis Nova Siri wurde nicht mehr gebaut; nicht realisierte Bauprojekte gibt es überall. Wie auch immer: Es muss eine beschauliche Fahrt über die 65,365 Kilometer in dieser Landschaft der Calanchi gewesen sein.
Einblicke. Interaktive Karte mit dem alten Streckenverlauf sowie Aufnahmen von Spuren in der Landschaft, ehemaliger Stations- und Dienstgebäuden etc.: Hier klicken.
Versuch einer normalspurigen Renaissance
Es scheint, als habe man kurz nach der Stilllegung der heruntergewirtschafteten Schmalspurstrecke gemerkt, dass es trotzdem wieder einen Ersatz braucht; die Proteste waren damals in der Bevölkerung offenbar auch lauter. Und so machte man sich an die Planung und begann 1986 mit den Bauarbeiten für eine neue Strecke. Als Kind und Jahre darüber hinaus sind mir dann die Objekte in der Landschaft aufgefallen, die zum zweiten Puzzleteil gehören: Ein eindrücklicher Viadukt zieht sich in einer Kurve durch das Basento-Tal Richtung Ferrandina. Ich kann mich noch an die Staus auf der steilen Strasse (SS 7 racc) erinnern, welche die enormen Lastwagen verursacht haben, als sie Betonelement um Betonelement Richtung Tal transportierten. Ein Viadukt im Nichts entstand, ohne Gleise darauf, davor und dahinter, obwohl an vielen Orten der Oberbau des Trassees fertiggestellt ist. Von der Diga San Giugliano aus sieht man eine mächtige Stahlbrücke. Der Bahnhof in Matera La Martella mit Parkplatz und allem Drum und Dran ist bereit – es fehlen auch hier Gleise und Passagiere. Und erst 1997 gelang im Tunnel unter dem Hügelzug zwischen Bradano- und Basento-Tal (bei Miglionico) der Durchstich. Hier wurde offenbar erst recht klar, dass man sich in schwierigem geologischem Terrain bewegt; lehmig, sandiger Untergrund, und sogar Gase machten den Ingenieuren das Leben schwer. Die Kosten für das Projekt stiegen ins Unermessliche. Leider nicht nur wegen des geologischen Untergrundes, sondern wegen ganz anderen untergründigen Geschichten: Es besteht der Verdacht, dass die mit dem Bau beauftragte Firma MATEFER auch wegen korrupter, ja mafiöser Machenschaften falliert ist.
Einblicke. Daten und weitere eindrückliche Bilder der nicht vollendeten Bahnstrecke (Aufnahmen 2007 bis 2011) unter diesem Link.
Weiter habe ich mich damit nicht befasst.[6] Kurzum: Es sind nicht die Spuren einer alten Bahnstrecke, sondern fast schon Monumente einer Leidensgeschichte.

Ich freue mich für die Einheimischen, Touristen und andere, die den Weg hierher finden; nach gut 30 Jahren wurde 2017 das neue Projekt vorgestellt, das übrigens noch interessante Neuerungen enthält: Zum einen endet die Strecke nicht mehr in La Martella, sondern verläuft bis Matera Venusio, so dass ein Anschluss an die FAL gegeben ist.[7] In Matera Centrale ist das ja nicht möglich. Zum anderen wird vor der Einfahrt Ferrandina eine Spange Richtung Potenza gebaut; analog zur Abzweigung, die bereits Richtung Metaponto besteht. Auf diese Weise kann Ferrandina mit direkten Zügen von Napoli beziehungsweise Taranto her kommend umfahren werden.
Die Antworten und erstaunlich viele Informationen habe ich schliesslich im Internet gefunden. Viele Dinge auch mit dem Augenschein auf eigene Faust – und eben nicht auf dem Beifahrersitz – erfasst. Die Tatsache, dass ich keine klaren Antworten erhalten, bisweilen Ärger gespürt habe, zeigt, dass das Kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft, das staatlichen Institutionen in gewohnter Weise mit Skepsis begegnet, konfus werden kann, wenn sich Projekte über Jahrzehnte hinziehen. Dass man bestehende Strecken vernachlässigt, um sie dann zu schliessen, darüber will ich aus der geographischen und historischen Distanz nicht urteilen; verschiedene wirtschaftliche, strukturelle und menschliche Faktoren führen zu so einem Schritt. Dass man in der Gegend ohne Auto aufgeschmissen ist, hat sich jedenfalls tief ins Bewusstsein der Menschen eingebrannt und jeder Angebotsausbau wird nicht ohne Aufwand zu einem Erfolg führen. Das Einstimmen ins kollektive Kopfschütteln darüber, dass man damit einer Provinzhauptstadt keinen Gefallen getan hat, sei mir aber erlaubt.
Die «Schnecke»
Es war höchste Zeit, einem meiner grössten Hobbys, auch in meinen Reisenotizen etwas Raum zu geben. Mich interessiert bei der Eisenbahn neben technischen, ästhetischen Fragen allem voran die Bahngeschichte. Reizvoll ist die Geschichte einer Bahn besonders darum, weil sie auch Beziehungsgeschichte ist, was für regionale Verbindungen ganz besonders zutrifft. Daran habe ich mich erinnert, als ich zum ersten Mal in Matera ganz bewusst in einen Zug der Ferrovie Appulo Lucane eingestiegen bin. Das Erzählen darüber, obwohl die Bahn um Modernisierung bemüht ist, löste wiederum Erstaunen aus und bestätigt das bisher Gesagte. Und aus Erfahrung weiss ich, dass man besonders hinschauen muss, wenn eine Nebenbahn Übernamen erhält. Im Falle der FAL stosse ich immer wieder auf Ferrovie Appulo Lumache – etwa: die Schneckenbahn – oder sogar Famigerate Appulo Lumache: die berüchtigte Schneckenbahn. In beiden Fällen ein Spottname, der zwar das Kürzel FAL und den Klang aufnimmt, aber sprachlich nicht ganz aufgeht; aber das spielt dem kreativen Wutpassagier, der damit den Volksmund geprägt hat, keine Rolle. Wie auch immer und schon gesagt, man muss etwas Zeit mitbringen für die vergleichsweise kurzen Strecken. Aber das war es mir wert.
Im Herzen eines dichten Netzes
Der aufmerksame Leser, die aufmerksame Leserin wird unterdessen wohl ahnen, warum ich einerseits von der Strecke zwischen Matera und Ferrandina (inklusive Verlängerung bis Montalbano Jonico) so ausführlich gesprochen habe. Was hat das andererseits mit der Begegnung mit der FAL, als einer Nebenbahn, die noch um etwas Wertschätzung ringt, auf der Strecke Matera-Bari zu tun? Ganz einfach: Die Stücke gehörten zusammen und Matera ist das Bindeglied. Matera-Bari war die erste (1915) errichtete Stecke in einem geplanten schmalspurigen Streckennetz, das nichts weniger vor hatte, als alle Meere sowie zusammen mit den grossen Bahnen des noch jungen Königreichs die Italiener mit Italien zu verbinden: Die Vorgängergesellschaft der FAL war in den vier Regionen Kampanien, Basilicata, Apulien und Kalabrien unterwegs. Der stillgelegte Ast, der am Bahnhof Pomarico vorbeigezogen ist, wurde in den Jahren 1928 bis 1932 errichtet.
Hier, wo man heute um Anschluss ringt, befand man sich einst im Zentrum des Geschehens. Es wäre reizvoll, die Geschichte hier genauer und im grösseren Zusammenhang darzustellen. Ich beschränke mich nur auf einige Angaben, die zum Weiterlesen anregen mögen:
1905 wurden die italienischen Staatsbahnen, die Ferrovie dello Stato, gegründet, was dazu führte, dass viele bis dahin gebaute Normalspurstrecken privater Initiative entzogen und verstaatlicht worden sind. Der damaligen Gesellschaft Rete Mediterranea beziehungsweise der Società per le Strade Ferrate del Mediterraneo erging es genauso. Allerdings erhielt sie eine grosszügige finanzielle Entschädigung, was es ihr schliesslich ermöglichte, sich als Mediterranea-Calabro-Lucane MCL neu aufzustellen und 1910 mit einer Konzession für den Bau eines Nebenbahnnetzes in Süditalien zu starten. Am 9. August 1915 – Hochsommer im Krieg – wurde das erste Teilstück Bari–Matera eröffnet. Schmalspurig, aber doch etwas zu grossspurig, das Grossprojekt war dann doch etwas ehrgeizig und wurde laufend reduziert. Der Erste Weltkrieg war eine erste Krise, 1926 entschied man sich, nur noch die angefangen Strecken fertigzustellen und 1934 war Schluss mit Bauen. Das Resultat war ein reichlich zerstückeltes Netz von gut 765 Kilometer Gesamtlänge.

Die MCL habe dann den Betrieb und Unterhalt vernachlässigt. So kam es, wie es kommen musste: Am 23. Dezember 1961 stürzte der hinter dem Dieseltriebwagen entgleiste Beiwagen auf der Strecke Cosenza-Catanzaro vom Fiumarella-Viadukt 40 Meter in die Tiefe und 71 Menschen verloren dabei ihr Leben. Solche und andere Unfälle wie die Katastrophe von Balvano auf der FS-Strecke im Jahr 1944 (ein im Tunnel blockierter Zug, bei welchem um die 600 Menschen qualvoll im Rauch erstickten) prägen sich ins kollektive Bewusstsein ein, können aber auch ganz anderes auslösen: Für die Behörden war das Mass voll und der MCL wurde die Betriebskonzession entzogen.
Nun kamen die Ferrovie Calabro Lucane FCL auf den Plan und übernahmen ab 1. Januar 1964 den Betrieb der Schmalspurstrecken.[8] An diese Gesellschaft können sich noch viele erinnern. Doch lange sollte ihr nicht Glück beschieden sein:
Die Mobilität auf der Strasse erfasste auch den Süden und sie entwickelte sich ab den 1960er-Jahren wie andernorts auch hier rasant. Ein Einbruch der Fahrgastzahlen auf den ohnehin laufend veraltenden Schmalspurstrecken mit ihren nicht mehr konkurrenzfähigen Fahrzeiten war die Folge und so wurden ab 1969 laufend Strecken stillgelegt. Darunter auch die Linie Matera-Ferrandina-Montalbano Jonico. Busse sollten die verbliebene Nachfrage trösten.
1989 war ein entscheidendes Jahr. Die hohe Politik entschied, dass das Unternehmen zerschlagen und in zwei Unternehmen aufgeteilt werden soll: Die neu gegründeten Ferrovie della Calabria FC konzentrierten sich auf die Region Kalabrien und betreiben seither die dort verbliebenen Bahn- und Busstrecken. Die FAL kamen im Osten zum Zug und übernehmen den öffentlichen Verkehr in den Regionen Basilicata und Apulien. Vorerst beide Unternehmen mit untereinander aufgeteilten Fahrzeugen. 2001 wurde die Gesellschaft der FAL unter neuer Führung noch einmal neu gegründet: Verantwortlich für das Unternehmen ist heute das italienische Ministerium für Infrastruktur- und Transport, nachdem es seit 1990 provisorisch unter einer sogenannten Gestione commissariale governativa gestanden hatte.
Die Eisenbahnstrecken der FAL sind bis heute nicht elektrifiziert. Linienbusse sind unter der Flagge der Gesellschaft auf einem Netz unterwegs, das eine Gesamtlänge von gut 1000 Kilometern ausmacht.[9]
Folgende schmalspurige FAL-Bahnstrecken sind in Betrieb (aber durchgehend, etwa Bari-Potenza, nicht im Angebot):
Bari – Altamura – Matera | 76 km | Eröffnet 1915
(Es gibt Flügelzüge in Altamura: Ein Teil des Zuges fährt nach Gravina, ein anderer nach Matera Sud weiter). |
Altamura – Avigliano Lucania – Potenza (Inferiore = Centrale und Scalo) | 100 km | Eröffnet 1930-1934 |
Avigliano Lucania – Avigliano Città | 8 km | Eröffnet 1930 (Querstück der obigen Linie; heute Teil der Potentiner «S-Bahn») |
Bari-Biritto | 11 km | Eröffnung 2018 geplant |
Das Liniennetz (2018) der FAL. Quelle: Wikipedia (User: Arbalete – Opera propria, Pubblico dominio, Collegamento)
Weiteres Erfreuliches bahnt sich an: Am 22. Mai 2018 wurde ein Projekt für einen Neubau des Bahnhofs Matera Centrale der FAL vorgestellt, das im Blick auf «Matera 2019» architektonische Akzente setzt.
Eisenbahnfreunde kommen in der Gegend durchaus auf ihre Kosten, zumal auch noch an vereinzelten Orten historisches Rollmaterial aufgestellt, zum Teil auch betriebsfähig gehalten wird. So sind zum Beispiel einige der historischen Dampflokomotiven der damaligen Ferrovie Calabro Lucane FCL noch erhalten und gehörten zu den stärksten italienischen Schmalspurloks ihrer Zeit (MCL 400, MCL 353).
Die «kurze» Exkursion sollte an dieser Stelle reichen. Bleibt noch, eine gute Reise zu wünschen!
Weitere normalspurige Strecken in der beziehungsweise durch die Basilicata, die noch in Betrieb sind:
Avellino – Rocchetta Sant’Antonio-Lacedonio | Seit 2017 nach einem Rettungsversuch nur touristisch in Betrieb und auch dank Filmen bekannte Strecke (eingleisig, nicht elektrifiziert):
Von Rocchetta Sant’Antonio-Lacedonia wiederum zweigt vor nicht so langer Zeit stillgelegte Strecke Richtung Gioia del Colle ab, die einen Stadtteil von Melfi und Venosa berührte. |
Battipaglia – Metaponto | Teil der grossen Verbindung von Napoli, Salerno über Potenza, Grassano, Ferrandina bis Taranto. Eingleisig, elektrifiziert. |
Foggia – Potenza | Die Basilicata ist auch von der Adria-Seite her erreichbar. Die Linie führt über Rocchetta Sant-Antonio-Lacedonia, wo Anschluss nach Avellino bestehen würde, über Melfi und Avigliano Lucanio (Anschluss FAL) Richtung Potenza, wo sie schliesslich Reisende an die Strecke Battipaglia–Metaponto vermittelt.
Eingleisig, einzelne Abschnitte elektrifiziert. |
Salerno – Reggio di Calabria | Touchiert die Basilicata bei Maratea.
Zweigleisig, elektrifiziert |
Sicignano degli Alburni – Lagonegro | Praktisch klinisch tot (obwohl kein Verkehr mehr seit 1987 nicht offiziell stillgelegt). |
Taranto – Reggio di Calabria | Küstenbahn, die unter anderem Metaponto, Marconia, Policoro-Tursi, Nova-Siri-Rotondella mit Halten versieht, aber auch einen Anschluss nach Brindisi vermittelt.
Teilweise Doppelspur, teilweise elektrifiziert. |
Hinweis – 14.1.2019: Der vorliegende Text wurde im Rahmen des Blogprojekts «Terra di Matera: Basilicata – Reisen, Gedanken und Erinnerungen» geschrieben und gilt nunmehr als nicht mehr weiter bearbeiteter oder korrigierter Entwurf für das Buch «Matera, die Basilicata und ich: Ein persönlicher und literarischer Reisebegleiter auf der Suche nach dem mystischen Herzen Süditaliens».
Alle mit diesem Hinweis gekennzeichneten Kapitel wurden für das Buch inhaltlich überarbeitet, mit Ergänzungen versehen und sprachlich korrigiert und erscheinen damit gedruckt in lektorierter Form. Freuen Sie sich auf mehr Lesevergnügen!
[1] Die FCL M2.200 sind bei den FAL unterdessen ausgemustert (https://de.wikipedia.org/wiki/FCL_M2.200). Andere Modelle neben den modernen Stadler-Fahrzeugen sind die etwas klobiger erscheinenden Doppeltriebwagen M4 (https://de.wikipedia.org/wiki/FCL_M4). – Wikipedia-Links als Beispiel für die Rollmaterial-Beschreibung. So auch informativ für die SB (https://de.wikipedia.org/wiki/FAL_SB) und ST (https://de.wikipedia.org/wiki/FAL_ST). – Links geprüft am 8.4.2018.
[2] Woher der Name kommt, ist nicht ganz klar. Allem Anschein nach tauchte es in den Jahren zwischen 1932 und 1933 auf, als der Diktator Benito Mussolini in einem dieser Fahrzeuge in die von ihm aufgebaute Planstadt Littoria fuhr, die heute eher als Latina bekannt ist.
[3] Eine kurze Darstellung über die Geschichte der Eisenbahnstrecken in der Basilicata habe ich zum Beispiel in diesem Artikel gefunden: http://consiglio.basilicata.it/consiglioinforma/detail.jsp?otype=1120&id=297582&appro=1 – Link geprüft am 8.4.2018.
[4] Als «Lamento Lucano» bezeichnet die Wissenschaft die ritualisierte Form der Trauer bei Todesfällen, wie sie in der Basilicata noch bis in die Kindheit meines Vaters verbreitet praktiziert worden ist (Klageweiber, welche die Trauer auf sich nehmen und mit Gesängen, Gesten und Praktiken zum Ausdruck bringen).
[5] Eine Internetseite mit dem Titel «Aufgegebene Bahnstrecken» führt den beschriebenen Abschnitt auf: http://www.ferrovieabbandonate.it/linea_dismessa.php?id=116 – Ein wunderbares Beispiel für das Wandern auf dem Trassee: http://www.falconaumanni.it/schede-escursioni-othermenu-80/51-schede-escursioni-2016/683-ix-giornata-nazionale-delle-ferrovie-non-dimenticate-dal-basento-a-ferrandina.html – Links geprüft am 8.4.2018.
[6] Hier einige Bilder: http://www.ferrovieabbandonate.it/linea_dismessa.php?id=172. Ausführlich, auch mit Bildern, schildert dieser Artikel das Projekt und die verschiedenen Anläufe; leider funktionieren nicht mehr alle Links zu Quellen: http://www.wikispesa.it/Stazione_ferroviaria_%22La_Martella%22_(Matera) – Links geprüft am 8.4.2018.
[7] Eine Präsentation des Projekts findet sich unter anderem hier: http://www.sassilive.it/cronaca/politica/ferrovia-ferrandina-matera-antezza-e-vico-avviati-lavori-funzionali-a-fase-progettuale-scopri-le-slides-presentate-da-gentile-rfi/ – Link geprüft am 8.4.2018.
[8] Wikipedia bietet einen tollen Überblick über die von der FCL übernommenen und betriebenen Strecken: https://de.wikipedia.org/wiki/Ferrovie_Calabro_Lucane – Link geprüft am 8.4.2018.
[9] Alles zur FAL über ihre Webseite: http://ferrovieappulolucane.it/ – Link geprüft am 8.4.2018.