Pilze findet man nicht mit der Wünschelrute, sondern vor allem mit Wissen und Erfahrung. Die Basilicata ist durchaus reich an Pilzen, vom Steinpilz bis zum Trüffel findet man alles Mögliche, was den Teller bereichert. Doch ab Oktober spriesst der berühmteste Pilz der Basilicata und der hat durchaus mit Ruten zu tun: der Cardoncello. Er ist formenreich und sein Fleisch ist ähnlich demjenigen des Steinpilzes. Es sind genau die kalkig-steinigen Böden, die er bevorzugt – die Murgia-Ebene bei Matera und im angrenzenden Gebiet Apuliens. Eingemacht, geschmort, gebraten, als Zutat in einer feinen Sauce in einem Pasta-Gericht; es gibt unzählige Zubereitungsmöglichkeiten.[1]
Und was hat das mit Ruten zu tun? Zunächst, auf der Suche nach dem Pilz hat sich mir ein Rätsel gelöst, denn endlich habe ich erfahren, wie diese riesigen Doldenpflanzen heissen, die in dieser Gegend zuhauf im Frühling gelb blühen und bis zu drei Meter hoch werden können: Ferula – der Riesenfenchel. Wer Cardoncello sucht, weiss, dass es sich der schmackhafte Parasit (pleurotus eryngii) unter anderem auf den Wurzeln der absterbenden Pflanze gemütlich macht.[2]
Die hohe Pflanze ist im Süden weit verbreitet und hat seit dem Altertum viele Formen der Nutzung erfahren: So soll sie im alten Rom als Gerte zur Züchtigung von Sklaven und Kindern verwendet worden sein. Vor allem aber war die Pflanze geeignet für kleine Konstruktionen im Haushalt, als Grundlage für Behältnisse, zum Transport von Glut (Prometheus soll den Menschen das Feuer mit einer Ferula gebracht haben); weiteres ist denkbar. Was ich nirgends geschrieben fand, aber mir erzählt worden ist: Aus der Ferula fertigten sich hierzulande Hirten ihren Stab.
Warum man ausgerechnet mit dieser Pflanze im Mittelalter gegen Hexen gekämpft haben soll, ist mir schleierhaft, es sei denn, es haftete ihr noch eine Ahnung dessen an, was sie mal war: Denn weniger verwunderlich ist, dass der gelbe Riesenfenchel, dem man heute ausser zum Pilzsuchen vielleicht, kaum Beachtung zu schenken scheint, einst eine heilige Pflanze war. Bei den Griechen hiess sie Narthex: Dionysos und seine Gefährten trugen einen Stab mit sich, den sie aus dem Stängel gefertigt haben, auf der Spitze ein Pinienzapfen aufgesetzt. Zeremonienstab? Insigne der Herrschaft? Stützgerät nach ausgiebigem Weingenuss?[3] Wer weiss, ich möchte es an dieser Stelle nicht weiter vertiefen; bei aller Liebe zu den herausragenden Merkmalen der südlichen Landschaft soll ja nicht der Wirt, sondern der schmackhafte Parasit beworben werden.
Tatsache ist, dass ich auf der Pilzsuche von den Insignien der lukanischen Küche zu den Herrschaftssymbolen von Päpsten, byzantinischen Kaisern und Patriarchen gelangt bin. Denn durch Zufall habe ich nun gleich auch noch erfahren, dass der Stab mit Kreuz, den die Päpste zu ihren Insignien zählen, bis heute Ferula heisst.[4] Hirtenstab und Herrschaftszeichen seit dem Altertum: der griechische Narthex bezeichnet gleichnamig das Insigne der byzantinischen Kaiser und Zeremonienstab der Patriarchen. Frühmittelalterliche Abbildungen zeigen die römische Ferula übrigens mit einer Kugel – ist aus dem Pinienzapfen die Welt geworden? Wer weiss … Selbst auf Pilzsuche ist man nicht davor gefeit, kulturelle Überlagerungen und Umdeutungen zu entdecken.
Wie auch immer, es gibt einige Traditionen, die geblieben sind, wer immer gerade den Stab in der Hand hält, Rom war für viele immer weit weg: Den Braunen Kräuter-Seitling, wie der Pilz auf Deutsch heisst, schätzt man in allen gesellschaftlichen Schichten seit dem Altertum, da er zu den spontan wachsenden Gaben der Natur gehört und darum jedem zugänglich ist. Ob mit oder ohne Rute.
Das Zepter hat nun der Koch in der Hand und ich freue mich auf einen Teller Capunti (typische lokale Pasta, durch Abrollen der Finger gefertigt) mit in Knoblauch und Olivenöl gedünsteten Cardoncelli.
Hinweis – 14.1.2019: Der vorliegende Text wurde im Rahmen des Blogprojekts «Terra di Matera: Basilicata – Reisen, Gedanken und Erinnerungen» geschrieben und gilt nunmehr als nicht mehr weiter bearbeiteter oder korrigierter Entwurf für das Buch «Matera, die Basilicata und ich: Ein persönlicher und literarischer Reisebegleiter auf der Suche nach dem mystischen Herzen Süditaliens».
Alle mit diesem Hinweis gekennzeichneten Kapitel wurden für das Buch inhaltlich überarbeitet, mit Ergänzungen versehen und sprachlich korrigiert und erscheinen damit gedruckt in lektorierter Form. Freuen Sie sich auf mehr Lesevergnügen!
[1] Eine schöne Darstellung des Pilzes, seiner Formen, seines Habitats in diesem Artikel: http://www.ilcuoreingola.it/it/gli-speciali/2012/06/03/gli-speciali-i-funghi-cardoncelli – Link geprüft am 6.8.2018.
[2] Andere Arten auch auf Disteln.
[3] Die wesentlichen Angaben zur kulturgeschichtlichen Bedeutung des Riesenfenchels sind dem entsprechenden Artikel in Wikipedia in deutscher und italienischer Sprache sowie den Weiterführungen, etwa zum Narthex und dem Artikel über die päpstliche Ferula entnommen.
[4] Den Herrschaftsstab der römischen Kaiser zierte der Adler des Jupiters.
Ein Gedanke zu “Cardoncello – Der Papst unter den Pilzen”