Tschingg!

«Was ist ein Tschingg?», fragte mich Christus, nachdem ich mit einem älteren Herrn über seine Zeit als Gastarbeiter in der Schweiz gesprochen habe. Solche Gespräche führe ich immer wieder und stets lerne ich dabei etwas Neues. Gastarbeiter – Dieses Wort stört mich übrigens auch jedes Mal von neuem. Gast zu sein, ist hier im Süden eine heilige Grösse, der Norden hat diesen Menschen damit aber etwas anderes zu verstehen gegeben. Der besagte Herr ist in den 1960er-Jahren auf der Suche nach Arbeit ausgewandert und teilte mit seinen Kollegen aus Norditalien, mit denen er so gar nichts gemeinsam hatte ausser der gerade genügend in der Schule gelernten italienischen Hochsprache und allenfalls die Begeisterung für die «Azzurri» (Fussballnationalmannschaft), das gleiche Schicksal: Er war ein Tschingg. Der Nordländer beschimpfe ihn sonst als Terrone, sogar als Cafone – beides abschätzige Bezeichnungen für einen Bauern, der von seiner Scholle, meist in ärmlichen Verhältnissen (ich erinnere an die italienische Einigung und den Widerstand des 19. Jahrhunderts) lebt. Umgekehrt versucht es der Süditaliener mit Polentone. Irgendwie tut das Wort etwas weniger weh, aber was soll er sagen; viele Südländer haben nun mal im Norden Arbeit gefunden. Bis heute treffe ich in Mailand vor allem Lucani, Campani, Pugliesi als Taxifahrer an; nie vergessen geht mir der Bahnarbeiter, den ich auf meiner ersten Bahnfahrt zu meiner Freundin vor wenigen Jahren kennengelernt habe, der von Lecce nach Mailand fährt und seine Familie nur am Wochenende sieht. Aber beide, Nord- und Südländer, waren sie in der Schweiz dann Tschinggen. Mit Schinken hat das nichts zu tun, aber mit Kultur auf der einen und einer Art Rassismus auf der anderen Seite.

Neben den Klischees mit Uhren, Schokolade und Banken, der Sauberkeit und «es funktioniert alles», ist vielen Italienerinnen und Italienern eines von der Schweiz geblieben: die Erinnerung an die leider verbreitet nicht eben gastfreundliche Behandlung der damaligen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter aus dem Süden. Etwas, was wir uns – gegenüber den Italienerinnen und Italienern – heute kaum mehr vorstellen können. Ich sage das bewusst so, weil es nicht selten Menschen gibt, die hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand Ausländer in verschiedene Kategorien einzuteilen scheinen.

Aber: Pizza, Pasta, Broccoli, Peperoni, Zucchetti und Zucchini haben uns vergessen lassen, dass unsere südlichen Nachbarn, die uns Brücken, Strassen und Häuser gebaut haben, vor nicht langer Zeit vor Schildern standen, die ihnen Eintritt in Bars und Restaurant verboten hatten. Manch einer erinnert sich an Schlägereien, Pöbeleien oder die erbärmlichen Umstände der Unterbringung in Massenlagern, nicht selten ausserhalb einer Siedlung, demütigende sanitarische Untersuchungen an der Grenze und den regelmässigen Gang zur Fremdenpolizei. Lange als sogenannte Saisonniers in unmöglicher Lebenslage und die Familie vermissend. Man störte sich an ihrer Lebensweise – Gruppen machten anscheinend zu viel Lärm auf den Strassen. Düfte wurden als Gestank interpretiert und andere Stereotypen, die gegen Fremde aller Art und Herkunft immer wieder aufzutauchen scheinen. Auch ich durfte diesen Schimpfnamen als Kind noch zu hören bekommen; damals, als ich noch nicht wusste, was von beidem – Schweizer oder Italiener – ich denn eigentlich bin.

Und wer hat’s erfunden? Das Schimpfwort Tschingg ist im späten 19. Jahrhundert in der Deutschschweiz und im angrenzenden Ausland (Baden, Vorarlberg) entstanden und wurde bisweilen auch auf Menschen aus dem Tessin und Graubünden ausgeweitet. Ich wollte den Begriff hier kurz erwähnen, nicht weil damit ein spezifisch lukanisches Thema verbunden wäre, aber weil etwas Sensibilisierung gegenüber immer gleichen Vorgängen und Hintergrundwissen im Gespräch mit vor allem älteren Menschen nicht schadet. – Und ganz klar: Es gab auch genug andere Stimmen und Menschen, die sich gegenüber den Immigrantinnen und Immigranten selbstverständlich ganz anders geäussert und verhalten haben. Auch diese Geschichten werden mir gerne erzählt.

Heute scheint das Wort Tschingg ohnehin zu verblassen; unter sogenannten Secondos, also «Zweitgeneratiönlern», wird der Ausdruck sogar schon mit Stolz oder Coolness zur Etikette. Tschinggeli ist schon fast liebenswürdig geworden. Es ist nicht selten in der Geschichte, dass Fremdbezeichnungen zu Eigenbezeichnungen werden.

Aber woher kommt das Wort? – Nun, der Ursprung hat tatsächlich mit der südländischen Kultur zu tun und darum gehört auch das hier erwähnt. Im Süden findet das Leben auf den Gassen, Strassen und Plätzen statt. Und da kann es auch mal laut werden – besonders bei Spielen in Gesellschaft. Dazu gehört das Spiel, das Morra heisst. Auch in der Basilicata, nicht mehr so häufig, leider, gespielt: ein antikes Fingerspiel, das schon den Römern bekannt war.

Kurz beschrieben: Man steht mindestens zu zweit – meist sind es Turniere in Gruppen – einander gegenüber und nun kommt es auf Geschwindigkeit, Menschenkenntnis, geistige Präsenz und Kreativität an. Was so banal klingt, ist nämlich wirklich eine Kunst und ein Tanz mit Leidenschaft und Körpereinsatz: Die Spielenden rufen gleichzeitig mit dem Vorstrecken der rechten Hand, deren Finger eine Zahl anzeigt, eine zu erratende Summe der beiden Hände – also eine Zahl von zwei bis zehn. Errät man die Summe, gibt es einen Punkt. Erraten sie beide Kontrahenten, gehen beide leer aus. Das Ganze geht sehr laut, unglaublich schnell zu und her und wird auch verbal und per Körpersprache als Duell ausgefochten.

Die Fünf – cinque, daher Tschingg!  – ist die Zahl, die man am häufigsten hört. La Morra, so sagen einige, ist die Zahl 10 (die Wortherkunft unbekannt). Gehört aber zu den Dingen, die man abmachen muss – wie etwa die Frage, ob eine Faust als 1 oder 0 gilt, oder: Bis auf wieviele Punkte mag man spielen, um eine Partie zu gewinnen? Dann stellt man sich dem nächsten Gegner. Jedenfalls ist es eine amüsante Choreografie, die je nach Teilnehmenden, Dialekt, örtlichen Gepflogenheiten ganz anders ablaufen kann und einen nervlich erfassen kann. Man tänzelt, ruft, schreit, es fallen ständig Dialektausdrücke. Es gilt aber übrigens nicht als Glücksspiel, wohl aber sorgte es immer wieder in der Geschichte für rote Köpfe, weil es in Streit, Fluchen und Händel ausufern konnte.

Trotzdem: So simpel, so eigenartig im besten Sinn – solche Dinge sind gelebte Kultur. – Dazu gehören übrigens auch Spiele mit den neapolitanischen Karten, wie vor allem Scopa oder Briscola, was keinesfalls still und auch meist draussen, vor Bars und auf Plätzen vonstattengeht.

Die Deutschschweizer beobachteten solche Gruppen, die sich natürlich auch zum Zeitvertreib einfanden, argwöhnisch und was sie hörten, wurde zu Schimpfwörtern: Tschingg oder auch Tschinggelemoore (cinque la morra). Dabei hätten sie an dieser Stelle etwas über Lebensfreude, Geselligkeit lernen können. – Heute ist es ja «urban», dass Lokale Stühle vor das Haus stellen und etwas mehr Leben draussen als drinnen stattfindet …

In diesem Sinn ist man doch gerne Tschingg – Geselligkeit geht vor.


Reinschauen:

Eine wundervolle Dokumentation (auf Italienisch) über „La Morra“ — (Link geprüft am 5.12.22)


Buchtipp:

Maiolino, Angelo: Als die Italiener noch Tschinggen waren. Der Widerstand gegen die Schwarzenbach-Initiative. Zürich, Rotpunktverlag 2011.


Titelbild des Beitrags ist urheberrechtlich geschützt und hier ausgeliehen: https://www.sgb.ch/themen/gewerkschaftspolitik/artikel/details/kontingentsystem-war-unmenschlich-und-wirtschaftlich-schaedlich/

Hinweis – 14.1.2019: Der vorliegende Text wurde im Rahmen des Blogprojekts «Terra di Matera: Basilicata – Reisen, Gedanken und Erinnerungen» geschrieben und gilt nunmehr als nicht mehr weiter bearbeiteter oder korrigierter Entwurf für das Buch «Matera, die Basilicata und ich: Ein persönlicher und literarischer Reisebegleiter auf der Suche nach dem mystischen Herzen Süditaliens».
Alle mit diesem Hinweis gekennzeichneten Kapitel wurden für das Buch inhaltlich überarbeitet, mit Ergänzungen versehen und sprachlich korrigiert und erscheinen damit gedruckt in lektorierter Form. Freuen Sie sich auf mehr Lesevergnügen!

5 Gedanken zu “Tschingg!

    1. Danke vielmals – ich sollte eigentlich mal mit Graben aufhören :-). Es kursierte auch der Ausdruck „Fremdarbeiter“, während Gastarbeiter ja schon fast vornehm klingt… Der Begriff Fremdenzimmer ist in der Schweiz kaum gebräuchlich, aber ich kenne viele Geschichten von Vermietungen – auch einzelner Zimmer – und Dingen, die einem heute die Haare zu Berge stehen lassen …

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      1. Bei uns in Franken gab es die Fremdenzimmer und natürlich auch die Gastarbeiter. Einige davon werden wir in Griechenland treffen, die gut deutsch sprechen und gerne von der Zeit sprechen, manche sogar mit Freudentränen in den Augen.

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