Es ist berührend still, die Mittagssonne brennt und ein warmer Wind bläst rauschend über die Hochebene. Wir haben Höhlen und Reste von Behausungen im Boden vorgefunden, wo Menschen seit der Steinzeit lebten, Gräber aus der Bronzezeit. Pfostenlöcher für Hütten im Boden als letzte Zeugen von Orten, wo gelebt, geliebt, gehasst, gestorben und erzählt wurde. Wie eng mussten die Menschen damals, vor 8000 bis 9000 Jahren, auf diesem rauen Gelände zusammenrücken. Lange bevor die Griechen jenseits der Hügel die Küsten besiedelten; und hier begegneten sie all den Völkern, die vom Meer, vom Land in die Gegend vorstiessen.

Karges Leben, alles stumm geworden. Meine Beine sind zerkratzt von den harten kniehohen Gräsern, es duftet nach wildem Thymian. Mir sind die unzählig vielen weissen Schneckenhäuser aufgefallen, die sich an die Halme klammern und im Wind mitschwingen: Bestimmt Nahrung für unerschrockene Jäger und Sammler. Nein, so viel Geschichte muss nicht sein; ich freue mich auf ein Brot mit einer Gemüse-Frittata.
Wir befinden auf der nördlichen Seite der Schlucht der Gravina, der Stadt gegenüber. Unter uns eine karstige Bergwand. Blickt man von Matera herüber, sind da eine Vielzahl an dunklen Löchern zu erkennen: prähistorische Grotten, die von der Steinzeit, über die Bronze- und Eisenzeit durchgehend bewohnt waren. Ob naturbelassen oder weiter ausgegraben: Sicher boten sie seither Hirten, Briganten und anderen immer wieder Unterschlupf, während auf der anderen Seite am Rande der steil abfallenden Schlucht seit der Antike auf den beiden trichterförmigen Erhebungen – Sasso Caveoso und Sasso Barisano – und auf dem Gebiet Civita einer Akropolis gleich eine Stadt gewachsen ist. Touristen und andere Besucherinnen und Besucher begnügen sich oft mit einem Spaziergang durch die Sassi, ein Besuch auf der anderen Seite, eine Wanderung durch die Schlucht, überhaupt der ganze Parco Murgia[1], der von archäologischen Stätten, Felsenkirchen und Naturwundern erzählt und nicht zuletzt mit kulinarischen Entdeckungen lockt, ist zwar etwas sportlich, vertieft aber die Erfahrung und lohnt sich allemal!
Skulptur eines aus dem Berg geborenen Volkes
Etwas erschöpft von der Wanderung und den Eindrücken gelangen wir in eine kühle Höhle, die im Mittelalter als Kirche ausgegraben worden ist. Durch die Öffnung der Felsenkirche blicken wir über die Schlucht zurück auf die Stadt. Hier wird einem klar, dass Matera mit seinen Felsenwohnungen hüben wie drüben eine der ältesten Städte der Welt ist. Und Menschen zogen hier schon lange durch, wenn ich daran denke, dass unweit von Matera, in Altamura, ein etwa 200‘000-jähriges Skelett eines Mannes gefunden worden ist, der dem Neandertaler ähnelt.
Materas Altstadt mit seinen Sassi ist eine einzige Skulptur eines aus dem Berg geborenen Volkes und über die Jahrhunderte zu einem kulturgeschichtlichen Wimmelbild mit Elementen aller Epochen der Geschichte geworden, dessen Anblick einen nicht mehr loslässt.
Christus und ich setzen uns auf einen Stein, wir lassen das Ganze auf uns wirken. Christus ist etwas andächtig geworden, vermutlich nach den vielen Eindrücken vorchristlichen Lebens. Plötzlich beginnt er mit dem Finger im Sand zu seinen Füssen zu malen. – Ich bin neugierig und schliesslich bemerke ich, dass mich das Zeichen, das da entsteht, an etwas erinnert. «Zeichnest Du das Logo der Kulturhauptstadt Matera 2019?», frage ich verwundert. «Ja», erwidert Christus: «Das Logo ist merkwürdig, verstehst Du es?»
Ein Logo, das erzählt
«Was ein gutes Logo ‹tut›, damit es als solches funktioniert, wissen Linguisten (Sprachwissenschaftler), Semiotiker (Zeichenwissenschaftler) und insbesondere Werbe- und Marketingfachleute am besten. Für die Kampagne Matera 2019 und neu Matera-Basilicata 2019 hat man aus zahlreichen Vorschlägen ein Logo ausgewählt, das ich besonders darum als sehr gelungen empfinde, weil es nicht nur für die Kampagne wirbt, sondern selber und damit symbolisch genau das tut, was der Zweck des Titels Kulturhauptstadt Europas ist: erzählen – den anderen und im Falle der Basilicata ganz besonders auch sich selbst.»
Das Logo besteht aus zwei Teilen: Einem abstrakten Symbol und einer sogenannten Wortmarke, die direkt auf die Kampagne der Kulturhauptstadt hinweist. Das braune Symbol hat es in sich und sagt bei genauem Hinsehen mehr als tausend Worte, denn es erzählt die mehrtausendjährige Geschichte Materas und seiner Umgebung. Es setzt dort an, wo die Besiedlung der Gravina, Materas und einiger anderer Dörfer der Gegend seinen Ursprung hat: in Höhlen und ausgegrabenen Kavernen.
Das braune Zeichen symbolisiert eine solche in den Tuff gegrabene Wohnkaverne und lässt damit Menschen sprechen, die seit Jahrtausenden in dieser Gegend auf diese Weise lebten, aber nie davon berichtet haben.
Eine Botschaft aus der Vergangenheit
Man hat diesen Menschen nun aber nachträglich eine Stimme gegeben und ein Denkmal: Das archaisierte Symbol wirkt wie eine Botschaft aus der Vergangenheit. Es hat mich in seiner Art etwas daran erinnert, was wir heute versuchen, seit Menschen unsere Welt verlassen: Mit amerikanischen Raumsonden wie Pioneer 10 und 11 oder Voyager 1 werden Botschaften in die unendliche Weiten des Alls geschickt, die von uns erzählen sollen. Was hätte ich da, knapp, einfach, vermeintlich allgemein verständlich, sprach- und zeitübergreifend angebracht? – Die Zeichen, die Daten selbst überdauern wohl Generationen, aber ob jemand da ist, der willens ist, das Überlieferte zu deuten und die Botschaft auch versteht, ob es uns dann als Menschheit noch gibt, wer kann es erahnen.
Die Menschen in diesen Höhlen und Kavernen sahen die Sterne nah und klar, aber dachten wohl kaum an Reisen zu den Gestirnen. Vielleicht erzählten die funkelnden Himmelskörper ihnen von den Seelen ihrer verstorbenen Ahnen, von Göttern und anderen Mächten, verhiessen vielleicht die Zukunft. Aber an Botschaften für die Zukunft dachte hier niemand. Wozu auch, der Alltag dieses Bauernvolkes ist kreisförmig, immer wiederkehrendes Einerlei. Unzählige Eroberungen und Fremdherrschaften, das Leben bleibt das gleiche. Durchbrochen nur von Geburt und Tod. Ein Leben im Rhythmus und im Einklang mit der Natur.
Von der Kulturschande zur Kulturhauptstadt
Menschen lebten bis in die Moderne in diesen Behausungen zusammen mit ihren Tieren. Was Carlo Levi und andere beobachteten und darüber berichteten, muss ich nicht weiter ausführen. Von aussen kaum beachtet und wenn, dann verachtet, war dieser jahrhundertelange Normalfall ohne Strom, Licht und Wasser bald nicht mehr zu ertragen. Man sprach von der «Kulturschande Italiens». Und als schliesslich in den 1950er-Jahren die Bewohnerinnen und Bewohner in den Höhlensiedlungen gezwungen wurden, diese zu verlassen und in neu errichtete Viertel vor der Stadt zu ziehen, die Quartiere in den folgenden Jahrzehnten zu einem verruchten Viertel Materas wurden, dachte niemand im entferntesten daran, dass diese Höhlen zum Symbol der Renaissance dieser Stadt werden würden. 1993 erklärte die UNESCO die Sassi zum Weltkulturerbe. Sie erklärte die Stadt zum Beispiel für ein tausendjähriges Lebenssystem, das es zu bewahren und der Nachwelt zu überliefern gilt. Matera wurde zum Modell für ein Leben, das sich im Gleichgewicht mit der Natur abspielt.
Die Stadt der Höhlenwohnungen und das damit verbundene Leben, daran erinnert das braune Symbol im Logo der Kulturhauptstadt: Das Volk ist aus dem Berg entstanden, in den es sich seit Jahrhunderten hineingegraben hat.
Die Entstehung der Sassi ist faszinierend und vergleichbar zu anderen Fels- und Höhlenstädten – übrigens auch in anderen Dörfern der Basilicata, nehmen wir zum Beispiel Grottole, den einst arabischen Dorfteil La Rabatana in Tursi oder auch in Pomarico einzelne Behausungen. Ist Matera heute sozusagen biblisches Land, Kulisse für zahlreiche Monumental- und Bibelverfilmungen, so findet sich in tatsächlich biblischen Stammlanden im heutigen Jordanien ein vergleichbares Beispiel: die fantastische Felsenstadt Petra.[2]
Häuser, Zisternen, Kirchen, Klöster und Verstecke
Vereinfacht dargestellt gingen die Menschen immer nach dem gleichen Prinzip vor: Zisternen zum Wassersammeln, Klöster, Kirchen und Behausungen wurden entweder aus bestehenden Höhlen oder neu tief in den weichen Tuff gegraben, der Aushub gleich für die Fassaden verwendet. Schliesslich wurden wiederum Hausteile an- und Häuser darüber gebaut. Hier ein Durchbruch, dort wieder vermauert. Des Einen Dach ist es des Anderen Terrasse oder eine Gasse; wo heute mancher seinen Wein im Keller lagert, schlief ebenda vor Jahrhunderten eine Familie mit ihren Tieren. Ein Gewirr von Wohnhäusern und Gassen, die über und untereinander verlaufen. Alles in diesem hellen Gelb ihres Steines gehalten. Zahlreiche Steinbrüche rund um die Stadt spendeten das Rohmaterial für das Mauerwerk der Behausungen, Kirchen, Paläste und anderen Bauten. Das Himmelreich dürften sich hier viele Seelen abverdient haben, als sie ganze Klöster in den Felsen gegraben haben. Wer die riesigen Zisternenanlagen unter der Stadt besichtigt, wird beeindruckt sein.
Das Leben in Höhlen beschränkte sich aber nicht nur auf die Stadt. Wer die Wege auf sich nimmt, wird schon ob der schieren Anzahl staunen: Man zählt etwa 150 Felsenkirchen – chiese rupestre – im ganzen Gebiet, und übrigens auch in anderen Dörfern der Basilicata sind solche zu entdecken, wenn man einen versierten Guide erwischt. Man kann nie alle besuchen, aber es wäre eine Sünde, wenigstens nicht zu einigen bei einem längeren Besuch einen Abstecher zu machen. Apropos: Nicht verspassen sollte man die Krypta der Ursünde (il peccato originale), eine der eindrücklichsten Felsenkirchen, welche seit dem 9. Jahrhundert benutzt wurde. Sie erzählt mit wundervollen Fresken die ersten Kapitel der Bibel, Schöpfung und Ursünde. 500 Jahre vor Giotto – nicht umsonst wird die Stätte als die Sixtinische Kapelle unter den Felsenkirchen bezeichnet.
In der Stille dieser eindrücklichen, oft etwas abgelegenen, zu erklimmenden und versteckten Wohn- und Kultstädten, Klöstern und Kirchen begegnet man den frühen Christen, kann sich in Seele und Leben eingewanderter und aus dem Osten geflohener Mönche und Orden einfühlen und etwas vom einstigen Byzanz aufspüren. Ganz zu schweigen, von Verstecken von Briganten und anderen Gestalten …
Alles in allem: Eine kaum vorstellbare Siedlungskontinuität, aber vorstellbar, dass darum ein Gefühl für Geschichte kaum entstehen konnte – man lebte ja mitten in ihr. – Das ist Kultur; und so kommt nach dem Weltkulturerbe nun der Titel der Kulturhauptstadt Europas.
Kultur ist Erzählung
Ein Logo sorgt für Wiedererkennung. Im Falle der Basilicata heisst das: auch sich selbst wieder erkennen und wertschätzen. Kultur ist Erzählung und ist letztlich das, was lebendige Gemeinschaften verwurzelt und im Innersten zusammenhält. Hierzulande sind in den Tiefen der Geschichte viele Stimmen verstummt, wir bewundern heute ehrfürchtig alte Bauten und Fassaden und staunen über Löcher, die bis vor kurzem Behausungen in der Masse unbekannter Menschen waren; und ist es doch nicht auch so, dass die Gegend selbst im europäischen Kontext viel zu lange stumm geblieben ist? Das Logo trägt vielleicht dazu bei, dass sich das nun und für künftige Generationen ändern kann.
Selbstbewusstsein bedingt ein Bewusstsein seiner selbst – und ein guter Umgang damit. Hier bleibt zu hoffen, dass die Lukaner authentisch bleiben und sich weder von den Bedürfnissen des Massentourismus, der vor den Fassaden stehen bleibt und mit fremden Vorstellungen kolonisiert, noch von der Vorstellung täuschen lassen, dass Fortschritt allein darin besteht, die eigene Herkunft, selbst die bittere Armut und das entbehrungsreiche Leben auf diesem harten Boden, in der künftigen Erzählung zu verdrängen.
Das Logo ist nicht nur so gestaltet, als ob uns die einstigen Urbewohner in den Höhlen eine Malerei hinterlassen hätten, ein Zeitzeuge, sondern ist auch ein Zeitreisender: Es ist in dieser abstrakten Figur ein W enthalten, was Italienisch für VV – viva – steht und ein M für Matera, also: es lebe Matera! In jeder Hinsicht. Selbstbewusstsein, die eigene Wertschätzung, die Belebung des Tourismus. Kultur ist ein entscheidender Beitrag zur eigenen Stadtentwicklung; auch das will die europäische Initiative Kulturhauptstadt fördern.
Vom Gleichzeitigen des Ungleichzeitigen
Das Logo erzählt mit dem Piktogramm, aber auch mit den Farben der Bild- und Wortmarke, die an den Tuff und Himmel über der Murgia erinnern, die mehrtausendjährige Geschichte Materas, seine erstaunliche Einzigartigkeit und doch auch etwas vom Gegenwärtigen, seiner Ankunft in der Moderne und seiner Zugehörigkeit zu Europa: Die Verantwortlichen der Kampagne 2019 erwähnen, dass in der Logofigur auch noch ein E zu erkennen sei[3]: Europa.
Die Initiative Kulturhauptstädte Europas wurde mit Blick auf das Zusammenwachsen im Inneren Europas geschaffen: Der Reichtum und die Vielfalt der Kulturen in Europa soll hervorgehoben werden, gleichzeitig werden die kulturellen Eigenschaften gewürdigt, die den Europäern gemein sind. Sie möchte bei den Bürgerinnen und Bürgern Europas das Gefühl stärken, einem gemeinsamen Kulturkreis anzugehören. Europa und der Welt wird mit der Basilicata eine Region gezeigt, die vergessen gegangen ist, und das, obschon sie direkt oder indirekt Anteil an so vielen weltgeschichtlichen Entwicklungen hatte. Europas Wurzeln liegen auch in der Basilicata mit deren wunderbaren Stadt Matera.
Viva Matera!
Ein Blogbeitrag eines reisenden Ehepaares mit wunderschönen Bildern zu Matera und der Gravina: https://susanne-und-peter.com/2016/11/09/die-aeltesten-staedte-der-welt/
Einige filmische Eindrücke:
Wie man in den Sassi lebte:
[Hinweis: Das Logo der Kampagne «Matera 2019: Kulturhauptstadt Europas» ist rechtlich geschützt und besteht aus einer Bild- sowie einer Wortmarke. Der Zusatz «io sostengo» weist darauf hin, dass es sich bei der hier verwendeten Abbildung um ein Unterstützungs-/Sympathisanten-Banner handelt, das von der Kampagnen-Stiftung auf Anfrage zur Verfügung gestellt wird, was verdankenswerterweise für meinen Blog geschehen ist. Das Logo darf nur für nicht-gewerbliche Zwecke verwendet werden. Das eigentliche Logo hingegen (ohne Zusatz «io sostengo») darf nur von Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Kampagne, die Patronate für Veranstaltungen übernehmen, verwendet werden. – Weitere Informationen unter www.matera-basilicata2019.it].
Hinweis – 14.1.2019: Der vorliegende Text wurde im Rahmen des Blogprojekts «Terra di Matera: Basilicata – Reisen, Gedanken und Erinnerungen» geschrieben und gilt nunmehr als nicht mehr weiter bearbeiteter oder korrigierter Entwurf für das Buch «Matera, die Basilicata und ich: Ein persönlicher und literarischer Reisebegleiter auf der Suche nach dem mystischen Herzen Süditaliens».
Alle mit diesem Hinweis gekennzeichneten Kapitel wurden für das Buch inhaltlich überarbeitet, mit Ergänzungen versehen und sprachlich korrigiert und erscheinen damit gedruckt in lektorierter Form. Freuen Sie sich auf mehr Lesevergnügen!
[1] Informationen und Exkursionen: www.parcomurgia.it
[2] Ein wunderbares Buch dazu von Pietro Laureano: Giardini di pietra.
[3] http://www.matera-basilicata2019.it/it/3-news/5-abbiamo-un-logo.html [Seite besucht: 18.6.2017].
Mega spannend etwas mehr über die Geschichte von Matera lesen zu können, gepaart mit der Bildern und Beschreibung der Landschaft. Die Bilder erzählen selbst… Die Dokumfilme über die Stadt und Menschen, wie lange hier in den Sassi gelebt wurde…. eindrücklich. Menschen lebten hier in den Höhlensiedlungen bis zur heutigen Zeit, wie Jahrtausende lang schon ihre Vorfahren, wo kann man das sagen? Wurden schliesslich zwangsumgesiedelt ? in „richtige Behausungen“ im 20. Jahrhundert. Armut der Leute bis in die heutige Zeit… was ändert der Tourismus? Oder wo soll ein zunehmender Tourismus nicht hinführen? Danke für diesen eindrücklichen, informativen Bericht.
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alles sehr spannend und interessant…..und gar nicht verstaubt…! ;-))
Mi piace (Daumen hoch)!
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