In Ohren, Mark und Bein: Musik, Tanz und Instrumente in der Basilicata

Was das Christuskind wohl zur Musik sagt? Ich betrachte die Figur eines Dudelsackspielers auf der grossen Krippenlandschaft. Ich habe vor der grossen Anlage in einem Seitenraum der grossen Kirche von Picciano Halt gemacht und festgestellt, dass die Figuren – zwar um einiges grösser – unseren Exemplaren gleichen, die im Hausbrand nach jahrelangem Sammeln ihr Ende gefunden haben. Wenn ich Weihnachtskrippen aufgebaut habe, war ich zumindest so rücksichtsvoll, keinen Dudelsack spielenden Hirten gerade vor den Stall zu stellen. Ein doch eher lauter, markdurchdringender Ton für fortgeschrittene Ohren. Maria wird ihrem Kind ja sicher auch noch etwas singen wollen. Und da sind noch andere Musizierende – an spielende Frauen kann ich mich interessanterweise nicht erinnern – die ihre Melodien auf Schalmeien, Pfeifen, Flöten und anderen Instrumenten dargeboten haben. Wie soll ich sie gruppieren, damit es harmonisch klingt?

Wenn ein Dudelsack inspiriert

Es braucht viel Puste, einen Dudelsack zu spielen. «Zampogna» heisst die auch in Lukanien heimische Sackpfeife und sein archaisches Wesen inspiriert mich in diesem Moment. Der spielende Schäfer auf der Krippe der Kirche hat es mir angetan und er blickt mich eindringlich an: «Schreib doch endlich auch mal etwas über die Musik in der Basilicata, scheint er mir sagen zu wollen.» Nicht nur über die seit kurzem wachsende Zahl von Hymen an das Land[1], sondern über das, was schon immer war: Die Musik, die Klänge von und zwischen Menschen. Die autochthoneren, nicht die kommerziellen Klänge, jene, die heute stiller geworden zu sein scheinen. Ich erinnere mich an diesen Gedanken, als ich kurz darauf im Mai 2018 zum ersten Mal das kleine Museum über die bäuerliche Lebenskultur in Pomarico besucht habe. Eine Sammlung von Alltagsgegenständen, wenig aufgearbeitet und dokumentiert. In einer Ecke, zwischen Gerätschaften entdecke ich einen an die Wand gehängten Dudelsack. Das erschlaffte Leder ist hart und unbrauchbar geworden. Wenn ich es mir genau überlege, gehört er genau dahin; er ist ein Teil des Alltags gewesen. Aber am liebsten hätte ich ihn mitgenommen. Ich schaue ihn mir lange an und frage mich: Wann hat er seinen letzten Atemzug gemacht und ein letztes Mal von jenem agro-pastoralen Leben erzählt, das mit ihm zusammen als breit gelebte Realität stumm zu werden droht?

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Traditionelle musikalische Darbietung anlässlich des «Maggio di Accettura», Foto: Bruno Liccese, Mai 2018.

Zum Glück gibt es draussen noch Sackpfeifen, die nicht erstarren. Ein Foto eines Bekannten hat mich kürzlich zum Beweis erreicht; ich habe ihn gebeten, mir ein paar Bilder des Ritus einer Baumhochzeit, dem Maggio, in Accettura,[2] zu schicken: Ein Herr singt aus voller Kehle, hält sich dabei die Hand zum Trichter geformt an die Wange, um mit Inbrunst zu den Klängen des Dudelsackes zu singen, der ihn an diesem Maggio begleitet. Solche und andere Instrumente werden selbstverständlich immer noch gespielt. Nur braucht es heute zur Bewahrung das dafür nötige Bewusstsein. Coscienza.

Lautmalerei – Gemälde von Lauten

Wir verlassen die Stille der barocken Kirche, in der nur die Geräusche der Schritte und der Klosterfrau, die den Marmorboden feucht aufnimmt, schwingen. Mein Vater hat von nächtlichen Pilgermärschen erzählt, die er mit seiner Mutter zum Fest der hiesigen Madonna absolviert hat. Während wir quer über den Platz zum Auto bummeln, versuche ich mir das damalige und heutige Gewirr an Geräuschen und Klängen, die ein süditalienisches Heiligenfest mit sich bringt, vorzustellen. Wie auf dem Platz, gut 15 Kilometer ausserhalb Materas, auch immer wieder Musik erklingt. Marschkapellen mit ihren Melodien – wie sie hierzulande in praktisch jedem Dorf anzutreffen sind. – Und Pfeifgeräusche: Da ist er wieder, der Cucù von Matera. Mein Vater hat am Souvenirstand am Ausgang des Geländes noch einmal kurz angehalten. Kleine tönerne Hähne sind auch hier unter den zahlreichen Heiligenfigürchen und anderen Artikeln eingereiht.[3] Ist diese Vogelpfeife, die zu einem der identitätsstiftenden Symbole Materas geworden sind, nicht auch so etwas wie ein urtümliches Musikinstrument?

Der Name des Instruments spielt auf den Kuckuck an – man spricht von Lautmalerei, was Fachleute als Onomatopoesie bezeichnen. Und wenn wir dabei sind, kommt mir ein Instrument in den Sinn, das in Varianten in diversen Zonen Süditaliens in verschiedenen Varianten vorkommt, in der Basilicata dank seiner Einfachheit und der mit ihm verbundenen Improvisation nicht wegzudenken ist: die cupa cupa.

Cupa cupa – Lustvolle Improvisation

Dabei handelt es sich um eine Reibtrommel, auch Carlo Levi hat sie in Aliano bemerkt, die nur für den aktuellen Gebrauch hergestellt wird – typischerweise zunächst zum Karneval, ähnlich dem nördlichen Brummtopf der frühen Neuzeit. Hierzulande ist das Gerät wichtiges Zeichen der ruralen Identität. In Kürze beschrieben: Man nehme ein Vorratsgefäss, in der Regel eine Vase aus Terrakotta als Resonanzkörper, es können auch Eimer und andere Gefässe sein. Ein Stab, etwa ein Schilfrohr, wird mit einem Stück Stoff mit Schnüren verbunden, der Stoff anschliessend über das Gefäss gespannt. Leder bzw. Fell sind dann schon eher fortgeschrittene und natürlich teurere Varianten.[4] Wesentlich ist ja, dass es sich um ein Instrument handelt, das man nicht nur improvisierend einsetzt, sondern auch eigens für den aktuellen Gebrauch zusammengesetzt wird. Hersteller und Musizierender haben je Einfluss auf den Klang. Und: Damit das Gerät klingt, muss man den Stoff und den Stab mit Wasser dauernd benetzen; der Ton wird erzeugt, indem man mit der Faust am Stab reibt.

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Alte lukanische Dame, die eine cupa cupa spielt. Quelle: Wikipedia; Autor: Forum giovani lucani, Pubblico dominio, Collegamento

 

Der Name der cupa cupa – andernorts cupo cupo, putipù, bufù – spielt wiederum lautmalerisch auf den Ton an, den das Gerät durch das Reiben im Bauch des Gefässes erzeugt. Je nach Grösse kann es sogar als Bass-Instrument zur Begleitung in einer Musikgruppe – in der Basilicata etwa in einer Tarantella-Formation – oder als reines Perkussionsinstrument verwendet werden. Im Fall des Karnevals geht es darum, sonoren Lärm zu erzeugen. Mein Vater erinnert sich, dass man damit von Haus zu Haus zog, in der Hoffnung für das «Konzert» belohnt zu werden. Dass man bei armen Menschen auf Salsiccia, Brot, Käse und sogar Wein eingeladen wurde, war eher willkommen, als bei Reichen mit einer Münze abgespeist zu werden. Übrigens, dass einem die am Stab reibende Handbewegung auch leicht obszön vorkommen kann, ist nicht ganz von der Hand zu weisen und spielt, gerade am Karneval, durchaus auch mit, wie man mir sagt. Nimmt man das Gerät wieder auseinander, wird das Gefäss wieder zum unschuldigen Vorratsbehälter. So wie das dieses zum Alltag zurückkehrt und seine ihm bestimmten Dienste verrichtet, tun es die Spieler.

Lokale Traditionen und alter Kulturschatz

Die Basilicata hat viele lokale Traditionen bewahrt und vielleicht gerade noch rechtzeitig nach dem Schock und den sozialen Umbrüchen der vergleichsweise erst seit kurzem einziehenden Moderne sowie den Abwanderungen und den Abwendungen der eigenen Bevölkerung von ihrer Vergangenheit wieder entdeckt. Die Musik trägt schliesslich viel zur eigenen Identitätsbildung bei und ist in solchen Fällen mehr als nur Folklore. Das wissen zum Beispiel Minderheiten wie die verschiedenen albanisch-stämmigen Gemeinden, die Arbëresh, die seit dem Mittelalter in mehreren Einwanderungswellen in Italien angekommen und in der Provinz Potenza an verschiedenen Orten immer noch mit eigener vor-osmanischer Sprache, eigenen Trachten, Folklore, weltlichen und kirchlichen Traditionen beheimatet sind.

Nicht nur die cupa cupa ist mir aufgefallen. Je länger ich suche, finde ich noch einige dieser alten Instrumente, wobei einige durch ihre Einfachheit bestechen. Eine vollständige Sammlung der in der Basilicata verwendeten Musikinstrumente anzustreben, ist mir aber nicht möglich. Ist aber auch nicht nötig. Im Sinne einer Notizensammlung: Da ist unter den Blasinstrumenten die schon erwähnte Schalmei (ciaramella) aus der Familie der Oboen und im Aufbau gleich wie die beiden Pfeifen des Dudelsackes (zampogna), ähnlich der Piffero. Perkussion: das Tamburin (tamburello), aber auch Kastagnetten (nacchere) und was mir besonders, nur schon vom Namen her gefällt: triccheballacche. Dabei handelt es sich um ein Holzgestell mit drei Elementen, von denen jedes mit einem Hämmerchen ausgestattet ist; die beiden äusseren Arme des Gestells sind beweglich. Die drei Hämmerchen stehen parallel zueinander. Der Musiker schlägt nun durch die Bewegung der Arme die äusseren Hämmerchen auf das fix stehende mittige. Elaborierte Versionen sind auch noch mit Schellen am Gerüst versehen. Das Gerät scheint aus dem Raum Napoli zu stammen.[5] Neben cupa cupa, tricheballacche kann sich in der Formation noch ein weiterer Zungenbrecher selbiger Herkunft dazugesellen: Hinter dem seltsamen Namen scetavajasse («weckt die Dienerschaft») verbirgt sich ein zweiteiliges Instrument, das aus einem glatten und einem gezähnten Stab besteht, die man übereinander reibt.[6] Einen ähnlichen Soundeffekt kann man übrigens auch mit Haushaltsgeräten erreichen: Man reibe einen Stecken über das hölzerne Waschbrett. Überhaupt können die unterschiedlichsten Gegenstände zum Einsatz kommen – Rasseln, Schellen, Glocken am Karneval, als Perkussionsinstrument auf dem Feld ein gefülltes Sieb, das sich gerade anbietet …

Das Akkordeon (fisarmonica) weniger, aber vor allem die Harmonika (organetto) ist schon seit langer Zeit nicht mehr aus der Volksmusik wegzudenken. Unter den Lauteninstrumenten treffe ich neben Gitarren (zum Beispiel die chitarra battente) natürlich die älteren Varianten der Mandoline und den Colascione, eine langhalsige Laute, an. Und spätestens jetzt ist zu erwähnen, wie sehr man nur schon anhand vieler Musikinstrumente das Zusammenfliessen von Traditionen in der Basilicata erkennen kann – allen voran das kulturelle «Einfallstor» Napoli, aber auch die Nähe zu Apulien prägen, was hier gespielt wird. Anklänge an Kleinasien, Türkisches, Spanien, Echos aus der Zeit der alten Griechen, Römer … Ob durch all die Einflüsse und Gemeinsamkeiten mit den Gebieten um die Basilicata eine eigene Identität geschaffen wurde, darüber kann man sich fachlich streiten. Fest steht, dass das hier Zusammenkomponierte länger überleben und im Einzelnen auch eigene Wege gehen konnte. Das gilt für Tanz, Gesang und Instrumente gleichermassen.

Fragen Sie mich, wenn wir bei den Instrumenten bleiben, aber nicht nach der Geschichte, wann welche Gerätschaften sich wo und in welchen Schichten durchgesetzt haben. Es ist aber anzunehmen, dass einige der aufgezählten, etwa die Lauten und Gitarrenformen wie übrigens auch die Violine, welche noch heute eine Tarantella- oder Pizzica-Tänzerin antreibt, zu den eher teureren und damit zunächst nicht so verbreiteten Musikinstrumenten zählen. Ganz zu schweigen von einer Vertreterin, die auch in der klassischen und kirchlichen Musik, gemäss meiner Freundin sogar in der Volksmusik, Fuss fassen konnte: die berühmten Harfen (arpa) von Viggiano, die von ausserordentlichem Kunsthandwerk zeugen. Die Harfen sind in der ganzen Welt anzutreffen. Viggiano, um es an dieser Stelle zu sagen, ist auch berühmt für eine alte Tradition der Strassenmusik.

Gefragt: ein Musikethnologe

Gerne würde ich viel eingehender über die Musik, über die Lieder und Tänze der Basilicata schreiben; nur käme ich mir vor wie die unzähligen Gelehrten, die nach Carlo Levi in die Basilicata und Apulien gereist sind, um einen dort angetroffenen, faszinierend archaischen Schatz, genährt aus unzähligen Kulturen und im Abseits bewahrt, aus ihrem Blick zu dokumentieren und vor dem gerade einsetzenden Untergang zu bewahren: Es sind nicht meine Lieder – abgesehen davon, dass ich nicht in der Lage bin, einigermassen wissenschaftlich akkurat über Musik zu sprechen und mir nicht die ganze Literatur angeeignet habe. Lieder, Tänze – das sind Zeichen, Ausdruck eines lebendigen Kulturellen Gedächtnisses, wenn sie laufend von Generation zu Generation weitergegeben werden. In meinen Augen sind jeder Tanz, jedes Anstimmen eines Liedes auch einmalige Ereignisse, besonders dann, wenn sie improvisiert werden – man singt und erzählt, klagt oder spottet über das, was gerade aktuell ist; Schreiben und Lesen konnte vor kurzem kaum jemand. Dokumentation ist also nicht alles, wenn die orale Gemeinschaft schwindet. Aber immerhin.


Reinhören: Eine Sammlung von Volksliedern in diesem auf youtube gefundenen Film:


Renaissance alten Musikgutes

Nicht nur die cupa cupa wird seit einiger Zeit wieder vermehrt in Szene gesetzt. Alte Traditionen überhaupt scheinen seit einiger Zeit Renaissance und Revival in verschiedenen Formen zu erleben im Zuge der zunehmenden Wertschätzung für das eigene Land sowie als Form und Ausdruck von Zugehörigkeit und Identität: Zum einen pflegt man in immer noch gelebten Karnevalstraditionen (zum Beispiel in Tricarico, Satriano di Lucania, Montescaglioso, Aliano), wo Satyrn und Dionysos verstohlen in ihre alte Heimat des ehemaligen «Magna Grecia» an Christus vorbeigrüssen, bewusst alte Lieder und setzt genuine Instrumente ein. Aber auch im modernen Rock, Pop und Blues, Jazz, sogar Reggae kommen lukanische Elemente zum Zug. So hat sich Matera seit den 1980er-Jahren zu einem eigentlichen Epizentrum für Jazz entwickelt, wo nicht nur zeitgenössisch, sondern bewusst an Traditionen anknüpfend musiziert wird. Ich erwähne etwa den Jazz-Club Onyx, der regelmässig Events, etwa auch in Form von Wanderkonzerten durch die Stadt und vor allem ein Musikfestival inszeniert.[7] Zu nennen wäre auch das Colletivo Casa Cava.

Ich lerne überhaupt immer mehr zeitgenössische Bands kennen und kann das Stöbern nur empfehlen. So gibt es zum Beispiel, um nur eine zu nennen, bereits seit 1975 eine Gruppe, die sich «I tarantolati di Tricarico» nennt. Italienisch hat fürwahr kreative Wortbildungen aufzuweisen: So wie der Terremotato derjenige ist, der von Erdbeben betroffen ist, ist der Tarantolato eine von einer Spinne gebissene Person. Dass dies in diesem Fall meist Frauen sind beziehungsweise waren, tut an dieser Stelle nichts zur Sache. Mit dem Tarantelbiss kommen wir zur Tarantella, Musik, die wortwörtlich in Mark und Bein geht. Und mit der Tarantella zu jener Geschichte, die unzählige Forschende und Expeditionen vor allem in die Basilicata und nach Apulien getrieben hat, um das merkwürdige, aus dem Dunkel der Geschichte stammende Phänomen des Tarantismus zu beschreiben. Die berühmteste Dokumentation, die einen Reigen von Forschungen seit den 1950er-Jahren ausgelöst hat, stammt von Ernesto de Martino. Ich empfehle dazu einen eindrücklichen Film aus dem Jahr 1961, der in schwarz-weiss nicht aus dem Mittelalter, sondern aus einer Zeit berichtet, als mein Vater 10 Jahre alt war: La terra del rimorso – Das Land des Gewissensbisses.[8]

Heute gibt es den Tarantismus offiziell nicht mehr. Aber die Musik und eine ganze Familie von verschiedenen Tänzen dieser Familie sind geblieben. Die Tarantolati di Tricarico nehmen die lukanische Form der Tarantella auf und haben sie nicht nur bewahrt, sondern laufend, auch mit Texten zu aktuellen Themen weiterentwickelt. In einem Dokumentarfilm sieht man, wie den Jungs 1975 ein alter Mann beibringt, wie man das Tamburin schlägt.[9] Auch er wird es auf diese Weise gelernt haben. Noch heute spielt die Band erfolgreich mit Elementen der Tarantella, spielt und singt mit sichtbarer Leidenschaft für alte und ursprüngliche musikalische Elemente und setzt bewusst neben moderneren alte Instrumente ein. Einer der Musiker schwingt einen langen Pfahl, an dem kleine Glöckchen und farbige Bänder befestigt sind, schüttelt ihn und kreiert mit der Geste einen suggestiven Zauber. Passend dazu die Tänzerin, welche die Gruppe virtuos begleitet – sie ist Ethnologin. Ja, die Ethnologen hat dieses Land wirklich gepackt, nicht die Spinne …

Ich habe die Band übrigens nach diesem Gerät gefragt. Man nennt es offenbar schlicht «il palo con i sonagli», ein Stock mit Schellen. Auch das sei ein typisches Instrument der Gegend. Was mir an der Antwort des Musikers gefällt und einleuchtet, ist, dass er von einem strumento povero. Unweigerlich denke ich an die cucina povera denken. Was für Reichtum, mit welchen sich die Menschen ausdrücken und beglücken können, in dieser Schlichtheit steckt.

Ebenfalls aus Tricarico stammt Pietro Cirillo, der mit seinem Musikprojekt «Officine Popolari Lucane» die musikalischen Traditionen ähnlich wie die Tarantolati in moderner Form in die Welt hinausträgt. Auch hier klingt die Tarantella immer wieder mit und kommen alte Instrumente zum Einsatz. Die Lieder nehmen einen mit, bei den Texten sind wir dann schon wieder bei der Sammlung der Hymnen an das Land angelangt …

Mit allen Sinnen verstehen

Solche und andere Bands sind natürlich Botschafter nach innen und aussen, lautmalend, zumal Musik eine universelle Sprache ist.

Will man ein Volk und das Land, das es bewohnt, verstehen lernen, muss man das mit allen Sinnen tun. Das Auge macht bereits neugierig. Und dann ist es das eine, sich zu den herrlichen Düften der lukanischen Küche mit an den Tisch zu sitzen und damit über Worte hinaus auch körperlich, viszeral, die Kultur zu verinnerlichen. Sapere – Wissen – geht in diesem Fall über die Sinne des Geruchs und des Schmeckens in Geist und Verstehen hinüber (auch hier ist das Auge natürlich mit). Damit ist das Bewusstsein über die Kultur, die man tief erfahren möchte, aber noch nicht vollständig: Coscienza kommt von lateinisch cum und scire – mitwissen. Wenn man als Aussenstehender auch nie zum vollständigen Mitwisser werden kann, so kann man sich doch zumindest anregen lassen, indem man auch die anderen Sinne und damit sich selbst öffnet. Es fehlt noch das Hören und Spüren. Musik ist Sprache der Emotionen und Emotionen sind die Sprache des Körpers.

Wer also ein Volk und das von ihm bewohnte Land verstehen will, der sollte auch auf seine Musik, Klänge und Rhythmen hören. Ein Bewusstsein für die Gewissensbisse, welche die Beine der Tanzenden hier angetrieben hat: Coscienza ist nicht nur das italienische Wort für Bewusstsein, sondern bedeutet auch Gewissen. Dieses kann bisweilen bekanntlich beissen – das Synonym zum bereits erwähnten rimorso des scharfsinnigen de Martino, eigentlich: das Wieder-Beissen.

Wer hinhört und sich mit Haut und Haar auf diese Kultur einlässt, wird vielleicht einst am eigenen Leib spüren, warum die Tarantel hier immer wieder zugebissen und nie eine Spur hinterlassen hat. Doch dies ist eine andere Geschichte. Sigmund Freud hätte seine Freude gehabt an dem, was er hier zu sehen bekommen hätte.

Es wäre spannend, dem Liederschatz tiefer auf den Grund zu gehen, der für alle Emotionen Ausdrucksformen findet; auch hier ein Blick ins Notizbuch:

Die Mutter singt ein sogenanntes Ninnananna, ein Wiegelied. Nicht selten mit Texten, die nicht gerade kinderfreundlich anmuten, angesichts des harten Lebens aber verständlich sind: Hier werden Kinder weit wohl früher auf die Realität vorbereitet. Die Worte kontrastieren mit dem beruhigenden Klang der Mutter. Ähnlich klingen Lieder, an die ich mich dunkel erinnere: ein melancholischer Singsang meist alter Frau, der während der Verrichtung der täglichen Arbeiten aus den Küchen klingt. Als Kind habe ich die Texte kaum je verstanden, aber gespürt: Die Frauen scheinen mit sich selbst zu sprechen, beklagen etwa ihren Mann, ihr Leben, das Alleinsein oder sonst etwas. Nenia, nennt die Fachwelt solche Gesänge und sie erinnern tatsächlich an die Totenlieder, die Frauen expressiv bei Bestattungen, aber auch lange danach bei jedem Besuch am Grab gesungen haben. «Mein Ehemann, warum hast Du mich verlassen …».


Reinhören: So klingt eine Frau 1978 in diesem Dokumentarfilm, die ihren verstorbenen Mann am Grab besucht (die ersten Minuten des Filmes):


Dazu gab es, dazu schweigen die vielen Sensen, Sicheln – die man auch im Tanz verwendet hat – und andere Werkzeuge im Museum unterdessen, zahlreiche Lieder, die im Rhythmus der Feldarbeit unter der heissen Sonne gesungen wurden. Sie erleichterten die Arbeit ungemein und erzeugten Gemeinschaft. Der Hirte spielt in die Einsamkeit des Tales. Transhumanz und musikalische Transzendenz: woher kommen die Klänge? Eine Gemeinschaft lebt von ihren Erzählungen. Und das lebt auch in Liedgut. Ich denke zum Beispiel an die Lieder der Briganten, die noch heute gesungen, zum Teil auch überhaupt erst vertont wurden.

Ich denke auch an Lieder, die man in der Runde zu monotonen Hausarbeiten sang. Ganz besonders im Winter. Lieder, welche die Melancholie zum Ausdruck brachten oder die Langeweile durchbrachen. Aber natürlich auch viele festliche und gesellige Lieder. Ein religiöses und aufopferungsvolles Leben verbot Freude nicht.

Da sitzt die alte Frau auf der Bank, stützt sich mit der linken Hand auf dem Knie, wippt leicht mit dem Oberkörper, während die rechte Hand trichterartig an der Wange liegt. Sie scheint auf diese Weise singend wie ein Marktrufer zu erzählen, allerdings verstehe ich sprachlich kaum etwas. Der alte Mann neben ihr begleitet sie mit der Harmonika und beobachtet sie. Wenn ich Dokumentationen von Forschungsreisenden höre, fasziniert mich die Gesangsmelodie, die für unsere Ohren etwas «falsch» klingen mag, die Tonalität ist uns fremd, und doch hört man plötzlich die Vergangenheit zwischen den Zeilen, pardon, Noten. Ohne weiteres erinnert der Gesang unvermittelt an Klänge aus Kleinasien.

Und wenn dann endlich einmal eine Spinne zugebissen hat, ist Gelegenheit zum Ausbruch. «Karneval der Frauen» nannten es böse Zungen auch schon, aber es ist doch mehr, eine nicht sonderlich stille Klage wie eine nenia, sondern eine expressive, dramatisch-hingebungsvolle Anklage gegen Unterdrückung, Religion, Liebeskummer, unglückliche Liebe, unterdrückte Sexualität und Schmerz, der ausgeschwitzt werden will.

Wer Ohren hat, …

Bewusst habe ich nicht von der Musik der gehobenen Klassen und insbesondere des kirchlich-liturgischen Umfelds gesprochen. Was einem bei genauerer Betrachtung begegnet, sind allesamt eindrückliche Zeugnisse eines archaischen Lebens von Bauern, Hirten und Waldarbeitern, die sich den Schatz mündlich weitergetragen haben. Wer Ohren hat, der höre, um es mit den Worten des «Touristen» Christus zu sagen und es eröffnet sich einem eine Welt der Musik von ungeahnter Qualität und ein Reichtum, den man sich zunächst nicht hätte vorstellen können: aussergewöhnliche weibliche Gesangsstimmen, virtuose Harmonikaspieler, Gesänge und Klänge um die cupa cupa oder den Dudelsack, ein reiches Repertoire an Liedern und Tänzen – ob Wiege- oder Kinderlieder, Liebeslieder, Karnevalsgesänge,  Trauergesänge, Arbeitsgesänge, Bettellieder, vielleicht sogar Verzauberungsgesang bis hin zu den verschiedenen Formen der Tarantella. Die Musik durchdrang alle relevanten Lebensbereiche, alles, was Menschen in der Welt der Hirten und Bauern beschäftigt und zeugt durch sich von kreativen Menschen, die trotz allem reich waren: Freude, Fest, Scherz, Ironie und Poesie.

Die Basilicata klingt – man muss nur hinhören.


 

Reinhören: Wer sucht, findet im Wiedererwachen der Basilicata eine Hymne nach der anderen. Die «Tarantolati di Tricarico» singen in diesem Lied die offizielle Hymne der Kampagne «Matera Kulturhauptstadt Europas 2019»:

Die Kurzversion:

 

Reinhören: Ein Beispiel aus dem Repertoire der Officine Popolari Lucane: «Tarantato comm‘ a me», das an die Tarantella erinnert (weiteres zu Pietro Cirillo und Band: www.pietrocirillo.it):

 


Reinhören: Der Dokumentarfilm von Ernesto de Martino aus dem Jahr 1952 enthält viele musikalische Aufnahmen und zuletzt einen Literaturhinweis, wer sich weiter vertiefen möchte:

 

Hinweis – 14.1.2019: Der vorliegende Text wurde im Rahmen des Blogprojekts «Terra di Matera: Basilicata – Reisen, Gedanken und Erinnerungen» geschrieben und gilt nunmehr als nicht mehr weiter bearbeiteter oder korrigierter Entwurf für das Buch «Matera, die Basilicata und ich: Ein persönlicher und literarischer Reisebegleiter auf der Suche nach dem mystischen Herzen Süditaliens».
Alle mit diesem Hinweis gekennzeichneten Kapitel wurden für das Buch inhaltlich überarbeitet, mit Ergänzungen versehen und sprachlich korrigiert und erscheinen damit gedruckt in lektorierter Form. Freuen Sie sich auf mehr Lesevergnügen!


[1] Vgl. das Kapitel «Basta che si sta bene – Hymnen an die Basilicata und Oden an den Reichtum der Genügsamkeit»: https://terramatera.com/2018/05/21/basta-che-si-sta-bene-hymnen-an-die-basilicata-und-oden-an-den-reichtum-der-genuegsamkeit/.

[2] Zu diesen Bräuchen vgl. das Kapitel «Mystische Begegnungen und Erfahrungen: Die Hochzeit der Bäume»: https://terramatera.com/2018/04/23/mystische-begegnungen-und-erfahrungen-die-hochzeit-der-baeume/ .

[3] Vgl. dazu das Kapitel «Der «Cucù» von Matera – ein Hahn im Korb der Souvenirs»: https://terramatera.com/2018/03/16/der-cucu-von-matera-ein-hahn-im-korb-der-souvenirs/.

[4] Ein Video zum Beispiel aus Matera zur Erläuterung, wie man selbst eine Trommel herstellen kann: https://www.youtube.com/watch?v=gDwhDIqvR50 – Link geprüft am 3.6.2018.

[5] Zum besseren Verständnis hilft Wikipedia: https://it.wikipedia.org/wiki/Triccheballacche – Link geprüft am 3.6.2018.

[6] Eine Beschreibung: http://www.virtualsorrento.com/it/arti/musica/strumenti_folklore/scetavajasse.htm – Link geprüft am 3.6.2018.

[7] http://www.onyxjazzclub.it/ – Link geprüft am 2.6.2018.

[8] Abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=kCoas6Z5r_w – Link geprüft am 3.6.2018.

[9] Die Sendung auf RAI uno «Linea Verde»: https://www.youtube.com/watch?v=9G0d9CAQ_nw – Link geprüft am 3.6.2018.

2 Gedanken zu “In Ohren, Mark und Bein: Musik, Tanz und Instrumente in der Basilicata

  1. Hallo Michael,
    wie Du beschreibst, besinnen sich die Jungen (und vielleicht auch nicht mehr so jungen) wieder der alten Tradition. Das ist in Italien so, bei uns in Bayern und bestimmt auch in der Schweiz. Schön zu hören ist, wenn alte Instrumente und Texte mit moderner Musik kombiniert werden und daraus „Weltmusik“ entsteht.
    Viele Grüße aus dem tropischen Franken schickt der
    Peter

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    1. Hallo Peter. Da und dort, leider nicht mehrheitlich, aber das ist wohl überall so. Der Zeitgeist hat auch diese Gegend im Griff. Aber wir hören gerne hin. Liebe Grüsse aus Süditalien, mit den ersten Feigen in der Hand! Michael

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